6. Verwirrung
So schön es ja war – irgendwie hatte auch ich mich nun unsterblich in Jens verliebt – aber wie sollte ich es Steffi beibringen? Oder sollte das doch ein einmaliges Erlebnis bleiben? Ein Seitensprung – mit einem anderen Jungen? So viele Gedanken schossen mir durch den Kopf. Einerseits liebte ich Steffi – sie war einfach das süßeste Girl, das ich kannte; andererseits hatte ich mich furchtbar in Jens verknallt. Verflixt – wie komme ich aus dieser Nummer wieder raus? Noch hatte ich eine knappe Woche Zeit, mir etwas einfallen zu lassen – aber dann? Sie würde es doch bestimmt merken, oder? Einfach garnix sagen, mit Steffi zusammenbleiben und mich heimlich mit Jens treffen? Nee, das würde irgendwann auch auffallen…. Und da waren ja auch noch meine Eltern, die sofort merken, wenn mit mir etwas nicht stimmt – wie sollte ich denen das erklären, wenn überhaupt? Ich war ja noch nicht einmal 16 – und das Argument „Das geht Euch nichts an!“ zog noch nicht. Natürlich ging es meine Eltern etwas an, was ihr 16 jähriger Sohn so treibt – und mit wem. Dann war es soweit – Steffi war aus den Ferien zurück, und hatte nichts Besseres zu tun, als mich sofort anzurufen. Mit Jens hatte ich mich in der Zwischenzeit nicht wieder getroffen – es blieb bei diesem einen Mal. Aber eine richtige Entscheidung hatte ich auch noch nicht gefunden – sage ich es ihr? Gehöre ich jetzt zu Jens? Oder doch zu Steffi? Mache ich mit ihr Schluss? Oder lieber mit ihm, noch bevor es richtig angefangen hat? Ich hatte absolut keinen Plan….
Doch ein paar Tage später bekam ich unerwartet Hilfe – von unserem Küster. Er hatte sowohl Jens als auch mich schon einige Zeit beobachtet – und auch mein Gespräch mit Jens im Garten des Gemeindehauses hatte er mitbekommen. Am nächsten Clubabend (Jens war nicht da, und Steffi quatschte gerade mit ihren Freundinnen über Mode oder was weiß ich was), nahm er mich zur Seite. Wir zogen uns in den Gemeinschaftsraum zurück und er schloss sorgfältig die Tür. „Was ist los?“ kam er direkt zur Sache. Wir alle mochten ihn, und gerade bei uns Jugendlichen in der Gemeinde genoss er ein großes Vertrauen. „Ich beobachte Dich nun schon seit gut zwei Wochen – Du hast Dich verändert! Was ist los?“ fragte er noch einmal. Dass ich mich ihm anvertrauen konnte, war keine Frage – im Gegenteil: ich war froh und erleichtert, dass sich jemand meiner Sorgen annehmen wollte…. doch wo fange ich an? Wie erkläre ich es ihm? Da ich noch immer schwieg, half er mir ein Wenig auf die Sprünge: „Du bist Dir über Deine Gefühle nicht im Klaren, stimmts?“ Und er ging noch weiter: „Du magst Steffi, bist nun schon eine ganze Zeit mit ihr zusammen. Aber letztens hast Du Dich mit Jens im Garten getroffen, und er hat geweint…“ Wie viel wusste er eigentlich noch? Plötzlich platzte es aus mir heraus – wir waren ja allein im Raum, und ich war mir sicher, dass er es für sich behalten würde. Also erzählte ich ihm unter Tränen die ganze Geschichte – dass Jens sich mir gegenüber als schwul geoutet hatte, und dass es mir gestand, dass er sich in mich verliebt hatte. Bis ins kleinste Detail sagte ich ihm, wie sich alles abgespielt hatte – von unserer Begegnung in der Stadt, über die Verabredung, um eigentlich Computerspiele zu spielen, bis zum ereignisreichen Nachmittag in Jens` „Büdchen“. Natürlich sprach ich auch über meine Gedanken und Gefühle, die ich nun nicht zu ordnen wusste, darüber, für wen der Beiden ich mich entscheiden sollte und so weiter… Der Küster hörte mir die ganze Zeit nur schweigend zu, während es aus mir nur so heraus sprudelte. Dann nahm er mich in seinen Arm, wischte mir die letzten Tränen ab und meinte zu mir: „Lass mich bitte einen Tag darüber nachdenken. Außerdem möchte ich – wenn es Dir recht ist – mit dem Pfarrer darüber sprechen.“ Da ich auch unserem Pfarrer vertraute, und mir fast ein Stein vom Herzen fiel, weil ich einen Verbündeten für meine Sorgen gefunden hatte, stimmte ich natürlich zu. „Komm morgen Nachmittag zu mir – dann reden wir weiter“ bot der Küster mir an. Gerne nahm ich dieses Angebot an – vielleicht fand ich ja so die Lösung? „Und jetzt geh erstmal in die Toilette ans Wachbecken und wirf Dir eine Ladung Wasser ins Gesicht! Steffi will Dich bestimmt nicht so sehen!“ Nach unserem Gespräch wäre ich so gern noch einmal in die Kirche gegangen; doch das Portal war abgeschlossen, und ich wollte den Küster nicht bitten, es noch einmal zu öffnen.
Am nächsten Tag warf ich nach der Schule nur schnell meine Schultasche zuhause ab, aß ebenso schnell, was meine Mutter mir auf den Tisch gestellt hatte (heute weiß ich schon gar nicht mehr, was es war), und verabschiedete mich mit den Worten: „Ich muss in die Kirche – ich habe ein Treffen mit unserem Küster“. So ließ ich meine Mutter staunend und wortlos stehen und lief zur Kirche. Im Küsterbüro öffnete auf mein Klingeln niemand – also versuchte ich es beim Pfarrer. Schnell hörte ich das Summen des Türöffners, ich drückte die Eingangstür auf und ging hinein. Hier war ich noch nie – was hätte ich auch bis jetzt im Büro des Gemeindepfarrers zu suchen? Neben seinem Büro befand sich ein kleiner Besprechungsraum, in den er den Küster und mich führte. Wir setzten uns; zuerst ergriff der Küster das Wort: „Ich habe Dir versprochen, über Dein Problem nachzudenken. Das habe ich getan. Aber zunächst musst Du Dir selbst über Deine Gefühle klar werden. Ich weiß, dass Du Steffi sehr gerne magst. Aber nach dem, was Du mir gestern erzählt hast, hast Du auch recht intensive Gefühle zu Jens. Dies ist erstmal eine Entscheidung, die wir dir nicht abnehmen können – die Dir niemand abnehmen kann.“ Erwartungsvoll schaute er mich an – und auch der Pfarrer wendete seinen Blick auf mich. Toll, jetzt bin ich genauso weit wie vorher! Meine Antwort überraschte beide: „Ich möchte in die Kirche!“
Um diese Zeit war das Kirchenportal noch geöffnet, das wusste ich. Ich stand auf, ging hinaus und auf direktem Weg in die Kirche. Sie war menschenleer. In der ersten Bank setzte ich mich hin, genau auf den Platz, auf dem ich bei der Konfirmation gesessen hatte, schaute auf den Altar und das darauf stehende Kreuz, faltete meine Hände und begann – zu meiner eigenen Überraschung – laut zu beten: „Herr, bitte hilf mir. Ich weiß nicht mehr weiter. Für wen soll ich mich entscheiden? Darf ich so große Gefühle für einen anderen Jungen haben? Oder ist das Sünde? Bitte, bitte hilf mir!“ Ohne dass ich es bemerkt hatte, war unser Pfarrer mir gefolgt, hatte zwei Reihen hinter mir Platz genommen. Er stand langsam auf, kam gemessenen Schrittes auf mich zu und setzte sich neben mich. Dann nahm er meine Hände, sah mich an und sprach nun zu mir: „Mein Sohn, Deine Gefühle kann und will ich nicht lenken. Doch Du sollst eines wissen: Wir sind alle Kinder Gottes. Wie auch immer Du Dich entscheiden wirst, übe immer Gerechtigkeit und Offenheit gegenüber Deinem Nächsten! Die echte Liebe kennt keine Geschlechter– aber Du sollst niemanden hintergehen!“ Dankbar schaute ich ihn an – jetzt war für mich alles klar…
Am nächsten Tag machte mit Steffi Schluss – den wahren Grund verschwieg ich ihr allerdings. Sie nahm es gelassener hin, als ich vermutet hatte. Bereits zwei Tage später traf ich mich wieder mit Jens – auch wenn noch nicht viel passierte, wir waren nun ein Liebespaar; wenn es auch niemand wissen durfte. Unserem Pfarrer hingegen war ich sehr dankbar – er hatte mir die Augen geöffnet, und für ihn spielte es anscheinend keine große Rolle, ob ein Junge ein Mädchen liebt, ein Junge einen Jungen, oder ein Mädchen ein anderes Mädchen. Aber schon nach drei Wochen trennten Jens und ich uns wieder, denn Jens wollte mich überall, wo wir zusammen hingingen, als seinen Freund präsentieren, auch im Club – doch ich war noch längst nicht soweit. Das passte mir überhaupt nicht! Schon wieder regten sich in mir die Zweifel: Bin ich überhaupt wirklich schwul?
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