Es war im Sommer vor zwei Jahren, als ich Samira das erste Mal traf. Es war wunderschönes Wetter und ich hatte beschlossen in den nahen Park zu gehen, um auf meinem Laptop zu schreiben. Hier suchte ich mir eine Bank, die im Schatten stand, legte mir ein Kissen unter, welches ich mir mitgebracht hatte, und klappte das Gerät auf. Ich kann nicht mehr sagen, woran ich gerade schrieb, irgendeine Geschichte oder einen Roman. Da ich zu der Zeit mehrere gleichzeitig bearbeitete, kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Doch woran ich mich erinnern kann, war der Augenblick, als ich Samira das erste Mal sah.
Dabei hatte es nichts damit zu tun, was später passierte. Sie war einfach eine außergewöhnliche Erscheinung, die mir ein Grinsen ins Gesicht trieb. Schmal wie ein Strich, die Arme wirkten zu lang, die Füße bzw. Schuhe zu groß, was an ihren dünnen, langen Beinen lag.
Was das ganze Bild noch eigenartiger machte, war die Tatsache, dass sie mittellange, knallrote Haare hatte, die wild und ungebändigt um ihren Kopf abstanden. Es erinnerte mich an eine Löwenmähne und auch die Tatsache, dass sie unzählige Sommersprossen hatte, änderte nichts an dem Anblick.
Eine Person, der man in der Art nicht oft begegnet. Dabei hatte ich sie zuerst gar nicht bemerkt, denn ich war auf meinen Text konzentriert, dass ich alles um mich herum, nicht wahrnahm. Nur die Tatsache, dass sie vor mir stolperte und fast hingefallen wäre, ließ mich aufschauen und sofort grinsen. Erschreckt, sah sie mich kurz an, lächelte mir unsicher zu, ging sofort weiter.
Dieses Bild von ihr, blieb mir im Gedächtnis, obwohl es für mich keinerlei Bedeutung hatte. Später klappte ich meinen Laptop zu und ging nach Hause, schwor mir das nächste Mal zwei Kissen mitzunehmen, denn die Parkbank war im Rücken etwas hart gewesen. Am nächsten Tag wollte ich wiederkommen und besser bewaffnet sein. Auch würde ich mir etwas zu essen und trinken mitnehmen, denn ich wollte länger dort bleiben. Es war angenehmer draußen im Schatten zu sitzen, anstatt in der dunklen und muffigen Wohnung den Tag zu verbringen. Einmal davon abgesehen war die Umgebung inspirierend. Ich konnte die Landschaft und die Menschen in meine Geschichte einbauen, die ich gerade sah, brauchte sie mir nicht mehr ausdenken, sondern konnte die nehmen, die gerade vorbeikamen. Dabei dachte ich an Samira, denn sie war die Einzige, die nicht gepasst hätte. Zumindest in meiner Geschichte nicht. Ihr Aussehen hätte in eine Kommödie gepasst, die ich nicht schreiben wollte.
Am nächsten Tag saß ich erneut auf derselben Bank. Eigentlich wollte ich eine andere nehmen, jedoch waren alle anderen, beschatteten Bänke besetzt, würden mir nicht die nötige Ruhe geben, die ich brauchte. Dort angekommen, legte ich meine zwei Kissen hin, setzte mich darauf und empfand es als einen wesentlich größeren Komfort, als einen Tag zuvor. Schleppi auf die Beine, die mitgebrachte Verpflegung in der Kühltasche neben mich und schon konnte es mit dem Schreiben losgehen.
Zwei Stunden saß ich dort, als ich der Meinung war, etwas zu essen. Ich war mit meinem Text ein kleines Stück weitergekommen und damit zufrieden. Die frische Luft und die Umgebung waren inspirierend. Gleichzeitig machten sie Hunger.
Ich kramte in meiner Tasche, holte einen Snack heraus und biss herzhaft hinein. Just in diesem Moment kam Samira ein weiteres Mal in meine Sicht. Ich erkannte sie sofort, denn eine solche Person vergisst man nicht innerhalb kurzer Zeit. Ich ließ meinen Arm mit dem Essen sinken, machte ein nachdenkliches Gesicht und kaute auf dem Stück herum, welches ich gerade abgebissen hatte. Dabei beobachtete ich sie aus dem Augenwinkel, tat aber, als wenn ich sie nicht wahrnehmen würde.
Sie war gerade vor mir angekommen, als sie erneut stolperte, dabei war es nicht dieselbe Stelle wie am Tag zuvor. Ich konnte einen leisen Schrei hören, während sie es gerade noch schaffte, ihre Gleichgewicht zu halten, um nicht zu fallen. Kaum stand sie wieder auf festen Beinen, sah sie mich für einen kurzen Augenblick eindringlich an, was mir sofort in Erinnerung blieb. Sie hatte jadegrüne Augen, die mir direkt in die Seele zu schauen schienen. Stechend, fordernd, zugleich auch weich, etwas was ich zuvor noch nicht gesehen hatte. Man konnte sich in diesen Augen verlieren, darin ertrinken.
Als sie nach wenigen Augenblicken wegschaute, war es, als wenn ich aus einem Bann entlassen worden war. Erst jetzt konnte ich mich von ihrem Blick lösten und klar denken.
Samira ging weiter, drehte sich jedoch noch einmal um und sah ein weiteres Mal nach mir. Wenig später verschwand sie hinter der nächsten Biegung. Erst jetzt erinnerte ich mich daran, dass ich etwas essen wollte, und schluckte den wässrigen Brei herunter, den ich noch immer im Mund hatte. Den Rest meiner Lebensmittel verspeiste ich gedankenvoll, während ich an ihre Augen denken musste. Weiterschreiben konnte ich nicht mehr, meine Gedanken waren woanders und ich konnte mich nicht mehr konzentrieren.
Selbst als ich später Zuhause war, ging sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Immer wieder schob sich ihr Bild vor meine Augen und ließ mich innerlich erschauern. Warum konnte ich nicht genau sagen, sie hatte mir nichts getan.
Zwei Mal hatte ich sie bereits gesehen, und wenn ich darüber nachdachte, war es beide Male zur selben Zeit gewesen. Irgendwie war ich neugierig geworden, vielleicht wollte ich auch noch einmal ihre Augen sehen. Im Nachhinein kann es nicht mehr sagen. Da das Wetter stabil war und ich nichts Besseres zu tun hatte, ging ich auch am nächsten Tag in den Park, war darüber begeistert, dass die Bank wieder verweist war, legte die Kissen erneut darauf und setzte mich wartend hin. Den Laptop hatte ich auch mit, schaltete ihn ein, er diente aber nur zur Tarnung. Ich wartete auf Samira, die es nicht gleich mitbekommen sollte, sofern sie überhaupt kam. Es sollte nicht aussehen, als wenn ich es auf sie abgesehen hatte.
Seltsam war, dass mein Herz anfing zu pochen, als sie tatsächlich um die Ecke kam. Sie sah mich ebenfalls von Weitem und verlangsamte ihren Schritt, was ich deutlich aus dem Augenwinkel erkennen konnte.
Ihre Schritte wurden kürzer und langsamer, trotzdem kam sie näher, sah jedoch nicht auf mich, sondern vor mir auf den Weg, als wenn sie etwas suchte. Doch dort war nichts Außergewöhnliches, genauso wie die Tage zuvor. Nichts deutete darauf hin, dass etwas nicht damit stimmte.
Ich habe keine Ahnung, wie es passieren konnte, nichts deutet darauf hin, doch als Samira an mir vorbei war, stolperte sie erneut.
Dieses Mal reagierte sie anders als zuvor. Noch während sie sich umdrehte und das Gleichgewicht wiederfand, starrte sie mich an. Doch sie ging nicht weiter, stand zuerst nur einen Moment da und setzte sich dann auf das andere Ende der Parkbank, ohne mich aus den Augen zu lassen.
Sie sagte nichts, blickte mich nur an und ich hatte den Eindruck, als wenn sie mich scannte. Ihre Augen bohrten sich in mich, wühlten in meinem Gehirn. Ob sie dort Nützliches fanden, konnte ich nicht sagen, denn sie brach auf einmal diesen erneuten Bann, unter dem ich stand, indem sie leise und lauernd zugleich fragte: „Haben sie etwas gegen mich?“
Ich war verwirrt. Erstens, weil ich wieder Herr meiner Gedanken war und zweitens, weil ich gewiss nichts gegen sie hatte. Warum auch. Sie hatte mir nichts getan. Ich hatte hier nur gesessen und sie war an mir vorbei gegangen. Nichts weiter. Ich kannte sie nicht, wusste zu dem Zeitpunkt nicht, wie sie hieß, noch irgendetwas anderes.
„Warum sollte ich etwas gegen dich haben?“, antwortete ich flüsternd, da ich einen Kloß im Hals hatte. Danach räusperte ich mich, um den Schleimpfropfen zu entfernen.
Man konnte ihr ansehen, dass ihr meine Antwort nicht schmeckte. Sie zog ihre Stirn erneut kraus, was ihr ein noch drolligeres Aussehen gab, als das, was sie zu vor gehabt hatte.
Ich musste einfach lächeln, nicht aus Freundlichkeit, sondern aus empfundener Belustigung. Besonders als sie ihre Hände unter ihre Waden schob. Hierdurch hoben sich ihre dünnen Beinchen so weit vom Boden ab, dass sie diese gegenläufig hin und her schwingen konnte.
Die Falten auf ihrer Stirn verschwanden langsam. Statt des vorigen Gesichtsausdrucks trat jetzt ein anderer in ihr Gesicht. Etwas von Neugierde kam hervor und sie wackelte noch stärker mit ihren Beinen vor und zurück.
„Was machen sie da eigentlich? Sie sitzen jetzt schon den dritten Tag hier und starren auf das Gerät auf ihren Beinen. Sie sollten lieber die Natur anschauen, als auf den Monitor. Ist doch nicht halb so interessant!“
Eine seltsame Ansicht, für eine junge Frau. Die meisten ihrer Artgenossen liefen vorgebeugt in der Gegend herum, hielten vorzugsweise die rechte Hand hoch und starrten auf ihr Smartphone. Mich hatte es oft gewundert, dass sie nicht laufend irgendwelche Schrammen oder Beulen im Gesicht hatten. Wer nur auf die Geräte starrte, musste unweigerlich gegen etwas laufen. Vorzugsweise Laternenpfähle oder Ähnliches. Wenn sie nicht auf die Dinger schauten, dann hatten sie zumindest Stöpsel im Ohr und hörten nichts mehr. Oft hatte ich mich gefragt, warum diesen Menschen nicht das Gehen verboten wurde, besonders wenn sie gleichzeitig beide Tätigkeiten ausführten. Blind und taub zugleich. Keine Kombination, die im öffentlichen Straßenverkehr von Vorteil war.
„Ich würde lieber die Natur beobachten!“, meinte ich zu ihr: „Leider habe ich da wenig Zeit für. Ich schreibe gerade einen Roman, der fertig werden muss. Da hier draußen die Luft besser ist, bin ich hier hergegangen, um es mir angenehmer zu machen. Außerdem inspiriert mich die Umgebung, baue einiges davon mit in die Handlung ein!“
„Hmmmmm!“, machte sie und sah mich interessiert an. „Komme ich drin vor?“
„Eigentlich nicht. Eher die Umgebung. Die Bäume, die Wiese da hinten und die anderen Sinneseindrücke, die ich hier erlebe. Der Geruch der Erde, das Rauschen des Windes in den Bäumen, die anderen Laute im Hintergrund. Das baue ich mit ein!“
„Schade!“, meinte sie und man konnte anhand des Untertons erkennen, dass sie enttäusche, war.
„Möchtest du denn gerne in dem Roman vorkommen?“, fragte ich sie, obwohl ich nicht wusste, wo ich sie einbauen könnte.
Ihr Gesicht hellte sich sofort auf und ein feines Lächeln, zog ihre Mundwinkel nach oben.
„Das wäre schön. Andere Leute kommen in die Zeitung, ich in ein Buch. Das können wenige von sich behaupten. Darf ich zuschauen?“
Sofort überschlugen sich meine Gedanken und ich überlegte blitzschnell, wie ich sie mit in die Story einbauen konnte. Es fiel mir nicht viel dazu ein, aber es würde gehen. Also nickte ich und sie rutschte näher an mich heran, saß wenige Augenblicke später direkt neben mir und starrte auf den Bildschirm.
Ich habe schon woanders geschrieben, aber noch niemals hatte jemand dabei zugesehen. Einen Situation, die ich nicht kannte und auch nicht mochte. Es machte mich nervös, was man daran erkennen konnte, dass ich mich die nächsten Sätze mehrfach verschrieb. Immer wieder musste ich etwas löschen oder korrigieren. Doch je länger sie neben mir saß, umso besser ging es. Irgendwann kam ich an eine Stelle, an der ich sie mit in die Story einbauen konnte.
„Ach ja, wie heißt du eigentlich?“, fragte ich sie und sah zur Seite und damit sie an.
„Samira!“, kam zur Antwort, während auch sie mich anblickte.
„Schöner Name, sehr klangvoll. Scheint nicht von hier zu kommen. Orientalisch?“
„Ja, kommt aus dem Arabischen. Meine Familie kommt daher!“
„Du siehst nicht gerade aus wie ein typischer Vertreter aus dieser Ecke der Welt aus!“
„Kommt darauf an, aus welcher Ecke man stammt und welcher ethnischer Gruppe man angehört.“
Da hatte sie recht. Der arabische Raum war groß und hatte viele, auch sehr kleine Volksgruppen. Da waren selbst rote Haare nicht selten vertreten.
Damit war das geklärt. Dabei spielte es eigentlich keine Rolle, wie sie hieß. Die kleine Rolle in meiner Geschichte bedurfte keines Namens. Ich schrieb, wie sie an mir vorbei gegangen war und stolperte, genauso wie es gewesen war. Mehr eine Art Lückenfüller, um der Story eine kleine Abwechselung zu geben.
Während ich es schrieb, verfolgte Samira es auf dem Bildschirm und ihr Gesicht verzog sich auf einmal, als ich auf das Stolpern zurückkam. Für mich hatte es keine Bedeutung, für sie anscheinend eine Größere.
Wieder sah sich mich aufmerksam von der Seite an und ich hielt inne mit dem Schreiben.
„Stimmt was nicht?“, fragte ich sie. Mir kam ihr Verhalten merkwürdig vor. In ihr Gesicht trat erneut der nachdenkliche Ausdruck.
„Sind sie sicher, dass sie nichts gegen mich haben?“, fragte sie wie zuvor. Dabei legte sie ihren Kopf schräg und starrte mir direkt in die Augen.
„Was meinst du damit. Ich versteh das nicht. Ich kenne dich nicht einmal, warum sollte ich also etwas gegen dich haben?“
„Das weiß ich nicht. Darum frage ich sie ja. Einmal zu stolpern, wo nichts ist, ist Zufall. Dreimal eher nicht!“
„Ich kann doch nicht zaubern. Außerdem, warum sollte ich das machen. Aus reiner Boshaftigkeit?“
Samira sah mir weiterhin aufmerksam in die Augen, versuchte anscheinend darin zu lesen. Versuchte herauszubekommen, ob ich log. Doch sie konnte anscheinend nichts darin erkennen. Das verwirrte sie sichtlich.
„Zaubern nicht, dass können die wenigsten. Es gibt aber noch mehr Möglichkeiten!“
„Meinst du etwa, ich suche mir einen wildfremden Menschen aus und praktiziere Voodoo an ihm, zum Spaß und großer Freude?“
„Neee, kein Voodoo, ich lebe doch noch!“, meinte sie, was nicht als Scherz gemeint war, denn ihr Gesicht blieb dabei ernst.
„Sie haben etwas an sich, was mir sagt, dass etwas nicht stimmt. Entschuldigen sie, wenn ich das sage, doch es ist so. Vielleicht wissen sie nichts davon und es ist unterbewusst, aber ich spüre da was, was ich nicht einordnen kann!“
„Du meinst also, ich habe etwa auf den Weg gezaubert, dass dich hat stolpern lassen. Einfach aus dem nichts?“
„Nein, nichts hingezaubert. Wie schon gesagt, zaubern ist schwer, eher meine Koordination gestört, meinen Geist so beeinflusst, dass ich das Gleichgewicht verlor, ohne das dort etwas war!“
„Und du meinst, dass das geht. Einfach so!“
„Möglich ist alles!“, meinte Samira, „Das lässt sich aber herausfinden. Vielleicht wissen sie selber nicht, dass sie das können. Ich könnte sie jemandem vorstellen, der es herausfinden kann. Nur wenn sie Lust dazu haben. Es könnte für sie interessant werden!“
Ich war baff, wusste nicht, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte. Auf der einen Seite hatte ich, um ehrlich zu sein, das Gefühl, dass Samira nicht ganz dicht war. Auf der anderen Seite machte es mich neugierig. Diese Situation oder das was folgen würde, könnte ich irgendwann einmal gebrauchen. Eigene Erlebnisse ließen sich gut in Geschichten einbauen, nicht nur als Lückenfüller. Vielleicht ergab sich aus diesem Angebot etwas Gutes für mich. Ich war gespannt auf das was kommen würde.
„Gut!“, meinte ich und nickte mit dem Kopf in Samiras Richtung, „Wann soll das stattfinden? Ich denke doch nicht heute oder?“
„Nein, ich muss erst bescheid sagen. Ich denke aber, dass es morgen gehen wird, wenn sie Zeit haben?“
Ich überlegten zwei Sekunden, ob es möglich war, dann nickte ich erneut und Samira lächelte mich zaghaft an.
„Also bis morgen. Wir können uns um dieselbe Zeit wie jetzt hier treffen. Sie brauchen nichts mitbringen!“
Mit diesen Worten stand Samira auf, sah mich noch einmal von oben herab an, drehte sich um und verschwand in der Richtung, in der sie nicht noch einmal an mir vorbeigehen musste. Das ließ mich erneut grinsen.
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