Hassliebe
Eine Geschichte über absolute Gegensätze und deren Anziehung.
© 01/2013 Coyote/Kojote/Mike Stone
Fair warning:
Das Thema ist nicht ohne, denke ich. Und die Perspektive verstärkt das, hoffe ich.
Gewalt spielt eine Rolle. Weniger sexuelle Gewalt, als sonstige. Politische Ideologien bilden eine Rahmenhandlung und es gibt – da will ich ganz offen sein – eine offensichtliche Vergewaltigungssituation ziemlich nah am Anfang. Also Finger weg, falls dich das triggert. Falls du darauf spekulierst, dass es eine ****-Fantasy ist, wirst du allerdings auch enttäuscht werden.
Heftig ist die Geschichte – hoffe ich jedenfalls, denn das soll sie sein – aus anderen Gründen.
‚Drei Tage aus dem Knast, in dem ich so ziemlich mein ganzes Erwachsenenleben verbracht habe. Und schon bin ich wieder dabei, mich in Schwierigkeiten zu bringen‘, denkt er sich genervt. ‚Ach, scheiß drauf…‘
Es gibt Auseinandersetzungen, denen man aus dem Weg gehen sollte.
Die kleine Straßenschlacht zwischen Rechten und Linken im Viertel, in dem er einen Unterschlupf für die nächste Zeit gefunden hat, gehört zu dieser Sorte. Mit der Kapuze über dem Kopf und gesenktem Kopf geht er den herumrennenden Spinnern aus dem Weg. Seine Größe sorgt dafür, dass es niemand so richtig eilig hat, ihn zu fragen, ob er irgendwo dazugehört.
Seine Chancen stehen gut, irgendwo ein ruhiges Plätzchen zu finden und die Sache auszusitzen. Jedenfalls solange ihm niemand in die Visage schaut.
Dann hört er den Schrei aus der Gasse. Und die Chancen sind am Arsch, denn es gibt auch Auseinandersetzungen, denen man aus dem Weg gehen kann. Wenn man will.
Für Erik gehört ein panischer, weiblicher Schrei voller Todesangst in einer vermüllten Seitengasse bei einer Straßenschlacht zur Feier irgendeines Nazi-Feiertags allerdings nicht in diese Kategorie. Nicht mehr, seit er seine Mutter und seine Schwester so schreien hörte.
Schnell bewegt der 24-Jährige sich durch den Unrat in Richtung Ende der Gasse.
Er weiß bereits in etwa, was er sehen wird. Und seine Erwartung wird nicht enttäuscht. Wohl aber seine Hoffnung, rechtzeitig zu kommen.
Die unvermeidliche Auseinandersetzung stellt ihn gegen vier Glatzen. Momentan ahnen die allerdings noch nichts von ihrer allernächsten Lebenserfahrung mit ihm. Ihre Aufmerksamkeit gilt der Frau, deren Schrei er gehört hat.
Sie ist ganz offensichtlich von der gegnerischen Seite des fröhlichen Geprügels auf der Straße. Rastazöpfe, Piecings, Punkstyle bei Klamotten und Tattoos. Und ihr Pech ist, dass sie ziemlich gut aussieht. Soweit er Erik das sehen kann.
Alles kann er nicht erkennen. Ihr Shirt und ihre Hose haben es hinter sich, aber auf ihrem Mund und ihren Brüsten liegen große Hände und packen nicht eben zärtlich zu. Und zwischen ihren Beinen steht einer der Typen und amüsiert sich offenbar bereits prächtig.
Die Kleine – an ihr ist wirklich nicht viel dran… Was zum Henker hat sie hier zu suchen? – ist jenseits gezielter Gegenwehr. Sie hatte nie eine Chance und jetzt lernt sie, weswegen sie besser Zuhause geblieben wäre. Nur leider zu spät, um sie noch vor dem Schlimmsten zu bewahren.
Aber das ist natürlich kein Grund, auch nur eine Sekunde zu zögern.
„Hey!“, sagt Erik.
Laut genug, um wahrgenommen zu werden. Mehr nicht.
Die Glatzen blicken auf. Aber sie lassen ihr Opfer nicht los. Natürlich nicht.
„Verpiss dich, Punk!“, schnauzt einer von ihnen.
Er hält der Kleinen den Mund zu und scheint das Kommando zu haben. Auf einen Wink seines Kopfes hin wenden sich die zwei am wenigsten involvierten Typen dem Neuankömmling zu.
Erik lässt sich nicht lange bitten und korrigiert das Missverständnis. Als er die Kapuze zurückschlägt, runzeln sich vier Stirnpartien.
„Alter“, macht einer von ihnen. „Warum schleichst du dich so an?“
Sie kennen ihn nicht. Aber wie sollen vier Glatzen eine Stirn mit einem auftätowierten Hakenkreuz missverstehen?
Erik zögert auch diesmal nicht. Während sich die Männer entspannen, tritt er näher. Und als sie sich wieder ihrem Opfer zuwenden wollen, schlägt er zu.
Zwei Schläge, zwei zertrümmerte Kehlköpfe. Den Rest wird Mutter Natur erledigen.
Die beiden Überlebenden haben genug Zeit, sich zu fragen, was da gerade passiert ist. Genug Zeit, um sich zu erschrecken, sich verraten zu fühlen und den Adrenalinstoß zu spüren.
Dann ist es nur noch einer. Der Typ am Kopf der Kleinen wird ebenfalls niemandem mehr wehtun. Das Knacken, als sein Schädel gegen die Wand knallt, die das Ende der Gasse markiert, ist mehr als eindeutig.
Der Letzte zieht sich aus dem Mädchen zurück und verschwendet dabei mehr Zeit, als ihm noch verbleibt.
Erik befördert ihn mit einem Tritt vor die Brust gegen die Wand und hat bereits eine der Metallstangen, die den Schlägern als gerade nicht benötigte Bewaffnung zur Verfügung stand und achtlos auf dem Boden liegt, aufgehoben.
Vermutlich wird niemand die Leichen so schnell finden, aber wenn es passiert, sollten sie nicht aussehen, wie von einem Profi getötet. Also brauchen sie eine Nachbehandlung.
Der letzte der Vier ist auf dieser Liste der Erste und stirbt schneller, als er es verdient hätte. Seine beiden noch röchelnden und zuckenden Kameraden folgen ihm bald.
Die kleine Zecke realisiert derweil, dass sich etwas verändert hat. Und natürlich versteht sie gar nichts, als sie die Augen öffnet.
Aber sie sieht. Und zwar, was ihre Peiniger auch gesehen haben. Weswegen sie gleich noch mehr in Panik gerät.
Ohnmacht wäre ja auch zu schön gewesen…
Erik kann sie nicht gehen lassen. Er muss untertauchen und sie würde jedem ihrer Freunde erzählen, was sie gesehen hat. Das würde zwangsläufig diejenigen, die Erik gerne wiedersehen wollten, weil er ihnen so viel Geld eingebracht hatte, auf den Plan rufen.
Er ist sich sicher, dass man die Suche nach ihm zähneknirschend aufgeben wird, wenn er einfach nur untertaucht. Er ist ersetzbar, und solange er nicht zur Presse oder Polizei rennt und seine Geschichte erzählt, ist er auch kein extremes Risiko. Nur eine Unbekannte in der Gleichung.
Die logische Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Zumindest für den Moment muss das Mädchen mit ihm untertauchen.
Ihr gefällt das nicht. Als sie versucht, sich aus dem Staub zu machen und von ihm abgefangen wird, wehrt sie sich mit neuer Kraft. Todesangst lässt sie ihre letzten Reserven mobilisieren.
Natürlich ist sie ihm nicht gewachsen, aber er will ihr auch nicht wehtun. Nur ist er in dieser Disziplin des Nahkampfes nicht sehr erfahren. Also nutzt er das absolute Minimum seiner Kraft.
Die kleine Ratte macht es ihm nicht leicht. Sie sieht eine Chance, da sein Griff nicht sehr fest ist. Also kämpft sie.
Sicherlich… Das Gewicht ihres anderthalb Meter langen Körpers liegt irgendwo im Bereich eines seiner Beine. Aber sie ist wendig wie ein Aal. Und in etwa so kooperativ.
Das ist nicht gut. Sie muss mitspielen, wenn das glimpflich ausgehen soll.
„Willst du leben oder sterben?“, knurrt er.
Das wirkt. Sie ist sofort stocksteif und rührt keinen Muskel mehr. Der vierfache Beweis seiner Ernsthaftigkeit liegt ziemlich breitgetreten in der Gasse.
„Also leben?“, schlägt er vor.
Sie deutet ein Nicken an.
Und dann… dann fängt sie an zu weinen. Und Erik zerreißt es fast.
Er würde ihr gern sagen, dass er sie nicht töten wird. Aber selbst wenn sie ihm das glauben würde, würde sie seine Erklärung für die Tätowierung niemals kaufen. Also muss er sie leiden lassen.
Fuck!
Wahrscheinlich ist das auch nicht besser, als das, was sie gerade noch erlebt hat.
Zusammen mit Erik verbringt sie Stunden hinter einem Müllcontainer. Er hält sie fest. Die Hand auf ihrem Mund, damit sie nicht schreit. Sicherheitshalber.
Er muss die Dunkelheit abwarten. Sein auserkorenes Versteck ist nicht weit, aber wenn ihn irgendwer mit dem fast nackten Mädchen sieht, ist es nicht mehr sicher. Also muss sie weiter leiden.
„Ich werde dir nichts tun“, raunt er ihr ins Ohr.
Sie schluchzt nur.
„Ich habe die Vier nicht von dir weggeschafft, um dich zu verletzen. Aber ich kann dir auch nicht trauen, also musst du bei mir bleiben, bis es sicher ist, dich gehen zu lassen.“
Ihr Schluchzen wird stärker.
Verdammt! Was hat er gesagt, was sie in Angst versetzt?
‚Abgesehen von der Auffrischung der Erinnerung daran, dass du vier Leute vor ihren Augen umgebracht hast, meinst du?‘, stellt er sich selbst die Gegenfrage. ‚Du Vollidiot!‘
Das ist der Beweis. Bücher über Diplomatie und Psychologie zu lesen ist einen Scheiß wert, wenn man das Wissen nicht auch umsetzen kann.
Glücklicherweise beruhigt sie sich bald wieder und er versucht, sie so sanft wie möglich zu halten. Aber er muss aufpassen. Die Straßenratten von heute – und sie ist eine, da ist er sich sicher – sind ganz sicher nicht langsamer als zu seiner Zeit.
Und als er in ihrem Alter war, war er verdammt flink.
Als die Dämmerung herannaht, wird aus ihrem ständigen Zittern ein Schütteln. Sogar ihre Zähne klappern…
‚Oh, Erik!‘, sagt er sich. ‚Du dämlicher Vollpfosten! Sie friert!‘
Das Schluchzen ist sofort wieder da, als er sich erhebt und sie an die Wand drückt.
Natürlich versteht sie nicht, weswegen er sie mit einer Hand über dem Mund fixiert und mit der anderen aus dem Mantelärmel schlüpft.
Ihre Augen verraten ihre Vermutung. Ebenso wie die neuen Tränenströme.
Als er die Hand wechselt, versucht sie nicht zu schreien. Aber das als gutes Zeichen zu werten wäre wohl zu optimistisch. Die Angst schnürt ihr eher die Kehle zu.
Sie begreift erst, als er den Mantel aus hat, sie vorwärts zieht und ihn ihr umlegt. Erst dann tritt für einen Sekundenbruchteil irritierte Dankbarkeit in ihren Blick, bevor das Misstrauen wieder überwiegt.
Aber wenigstens zittert sie nicht mehr, als er sie wieder in den Arm nimmt und ihren Rücken an seine Brust zieht.
Mit der Dunkelheit wird es ruhiger.
Was sich zunächst zu Krawallen ausgewachsen hat, verebbt nun. Nachts sind alle Katzen grau und außerdem kommen dann andere Raubtiere hervor. Auch solche, die Katzen besonders delikat finden.
Erik fürchtet diese menschlichen Räuber nicht. Aber auf eine Begegnung legt er auch keinen Wert. Also wird es Zeit aufzubrechen.
„Wir gehen“, erklärt er. „Es ist nicht weit und dir wird nichts passieren.“
Sie nickt langsam.
Natürlich versucht sie es, als er mit ihr an der Straße ankommt.
In dem Moment, in dem er sich umsieht, will sie sich losreißen. Er zuckt nicht einmal zusammen. Selbst mit all ihrer Kraft käme sie nicht gegen eine seiner Hände an.
Worte sind unnötig. Sie musste es versuchen. Er nimmt es ihr nicht übel. Stattdessen hebt er sie hoch und trägt sie die zweihundert Meter bis zu seinem Unterschlupf.
Es ist eine Ruine. Ein abgebranntes Haus mit kaum mehr als in paar Wänden vom Erdgeschoß.
Und einem Keller, für den Erik den Schlüssel hat, der all die Jahre seit dem Tod seines Großvaters an seinem Platz lag, ohne gefunden zu werden.
Natürlich gibt es andere Wege in den Keller zu gelangen. Nichts von Wert ist darin zurückgeblieben. Nichts außer Opas ganz privatem Geheimzimmer. Dort hat Erik alles unverändert vorgefunden.
Das Mädchen kennt den Keller. Er merkt an ihrer Anspannung, wie sehr es sie überrascht, das er einen Schlüssel hat. Und dann an ihrem Keuchen, wie fassungslos sie ist, dass es einen geheimen Raum dort gibt.
Das unmittelbar folgende, röchelnde Luftholen gilt allerdings mehr dem Interieur, wie er annimmt.
Ja. Opa war ein Nazi. Noch nicht geboren, als der Krieg stattfand, aber von einem ideologisch reinrassigen und straffrei entkommenen Parteimitglied in bester Tradition erzogen.
Das Zimmer ist voller Andenken an eine andere Epoche. Früher war Erik davon zutiefst beeindruckt. Heute bedeutet es ihm nichts mehr.
Aber der Kleinen bedeutet es etwas. Es bedeutet ihr, in der Hölle zu sein.
Als er die Tür hinter sich verschlossen hat, ist sie frei. Mit hochgezogenen Schultern versteckt sie sich in seinem Mantel und sieht sich angewidert um.
„Machs dir bequem“, bietet er an. „Da hinten ist eine Toilette. Es gibt sogar fließend Wasser aus dem Hahn, falls du dich waschen willst. Aber es ist kalt.“
„Nazischwein.“
Erik zieht eine Augenbraue hoch. Das Wort geht ihm Lichtjahre am Arsch vorbei. Aber das kann sie nicht wissen.
„Ist das schlau?“, fragt er.
Sie starrt ihn feindselig an.
„Vergiss es.“ Er winkt ab. „Denk, was du willst.“
Als er sich abwendet, springt sie zur Tür. Aber daran kann sie rütteln, soviel sie will. Opas Raum ist ein kleiner Luftschutzkeller. Ziemlich sicher, wenn man nicht gerade einen Atomkrieg erwartet.
Erik setzt sich, lehnt sich zurück und schließt die Augen.
Nicht, weil er wirklich schlafen will. Dafür ist er zu aufgekratzt. Aber die Kleine soll sich ein wenig beruhigen, und wenn er sich ruhig verhält, gelingt ihr das sicherlich besser.
Tatsächlich erweist sich diese angewandte Erkenntnis aus ‚Psychologie Heute‘ von vor zehn Jahren als richtig. Eines Fluchtweges beraubt und mit einem ideologischen Gegner vor der Nase, der sich auf kein Streitgespräch entlassen will, sieht sie sich noch einmal um. Dann verschwindet sie im Bad.
Den Geräuschen nach zu urteilen reißt sie zuerst einige Bilder von den Wänden und wäscht sich dann. Letzteres sehr lange und ausgiebig. Interessante Prioritätenverteilung.
Erik nutzt die Zeit, um eine Konserve zu öffnen. Die Vorräte sind ein Jahrzehnt alt. Aber sie sind für ein Jahrhundert ausgelegt. So in etwa…
Nach einer guten halben Stunde kommt sie wieder. Seinen Mantel gibt sie nicht auf. Verständlicherweise.
„Hunger?“
„Nazifrass.“
„Das Spiel können wir ewig spielen.“
Er dreht sich zur Kommode, öffnet die Schublade und erwartet ein paar Klamotten von seinem Großvater. Er findet etwas anderes…
„Fuck!“
Ungebeten und unvermeidlich sind die Tränen da.
‚Reiß dich zusammen, Erik!‘
Langsam und mechanisch nimmt er das Kleidchen aus der Schublade.
Es gehörte seiner Schwester. Es war ihr Lieblingskleid, als sie etwa im Alter der Kleinen gewesen war. Warum musste er ausgerechnet auf sowas stoßen?
Kurz streichelt er über den Stoff. Dann reißt er sich zusammen.
„Hier.“
Er reicht das Kleid ohne einen Blick zur Seite. Mehr zu sagen ist nicht drin. Mehr gibt die Stimme nicht her.
„Ich will deinen Na…“
„Nicht! Bitte… Beschimpf mich, den Raum, meinen Großvater, aber lass sie da raus. Sie hat niemandem etwas getan.“
‚Aber genützt hat ihr das auch nicht‘, fügt er in Gedanken hinzu.
Erstaunlicherweise schweigt die Kleine.
Sie nimmt sogar das Kleid und verschwindet noch einmal im Bad. Zwar trägt sie danach noch immer den Mantel, aber wenigstens hat sie jetzt etwas drunter.
Das ist gut.
„Also?“, fragt sie und setzt sich.
„Also?“, fragt er zurück.
Was wird das jetzt?
Als sie schnieft, sieht er sie an.
Sie blickt zu Boden und plötzlich ergibt alles einen Sinn. Sogar ihr streitsüchtiges Verhalten.
Stille zwingt dich zum Nachdenken. Und sie hat gerade ein paar deftige Dinge, über die sie nachdenken muss, wenn sie sich nicht ablenken kann.
Das hat Erik nicht bedacht.
Er sieht sie an. Ihre Unterlippe zittert und Tropfen fallen auf ihre Hände in ihrem Schoß. Der Mantel klafft auf und darunter ist das Kleid seiner Schwester.
Sollte er…? Ach, fuck it!
„Schließ die Augen.“
Sie schreckt hoch und sieht ihn an. Misstrauisch. Verängstigt.
„Vertrau mir.“
‚Ja genau‘, sagt seine innere Stimme. ‚Das wird sie jetzt mit Freuden tun.‘
Aber sie tut es. Langsam. Zögerlich.
Sie zuckt zusammen, als er sich auf das winzige Bett setzt, an dessen Fußende sie sich niedergelassen hat. Und noch einmal, als er sie in den Arm nimmt und mit sich zieht.
Dann verharrt sie regungslos wie ein kleines Nagetier im Angesicht der Schlange. Minutenlang.
Als sie anfängt zu weinen, ist es wie eine Kapitulation.
Erik kann ihr nicht helfen sich abzulenken. Darin ist er nicht gut. Aber Einsamkeit und Verzweiflung versteht er.
Er kann sie halten. Und trotz der riesigen Kluft zwischen ihnen ist es das, was sie jetzt am meisten braucht. Also klammert sie sich an ihn, wie eine Ertrinkende.
Und weint.
Stundenlang.
Zweiundsiebzig Stunden später ist alles fast gleich. Und doch völlig anders.
Der Raum bietet keine Bewegungsfreiheit. Und er drückt aufs Gemüt. Aber er ist sicher.
Es gibt Essen, ein Bett, ein Klo, fließend Wasser und genug Wärme. Zumindest unter der Bettdecke.
Erik liegt weiterhin im Bett und hält das Mädchen im Arm. Sie hat nicht viel gesprochen, aber etwas gegessen. Und nun hört sie zu.
„Rede mit mir“, hatte sie nach einigen Stunden unruhigen Schlafs gesagt. „Bitte…!“
Aber Erik ist kein Erzähler. Also liest er ihr etwas vor.
Mittlerweile ist es mehr als eine Ablenkung. Mittlerweile hört sie genau zu und folgt der Handlung.
Er merkt es an der Art, wie sie manchmal fester zupackt, wo sie sich an ihm festhält. An der Art, wie sich ihre Fingernägel in seine Haut graben. Und daran, wie die Tränen darauf tropfen.
Es ist kein lustiges Buch. Eher das exakte Gegenteil.
Der Titel lautet ‚Das wunderbare Überleben‘ und es ist von einem polnischen Juden nach seinen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg geschrieben worden.
Dass Erik gerade dieses Buch zur Hand hat, kommt ihm wie ein Wink des Schicksals vor. Denn es schlägt eine Brücke zwischen ihm und dem Mädchen, die er niemals selbst hätte schaffen können.
Es hat ein bitteres Ende, aber es handelt von Menschlichkeit in einer unmenschlichen Zeit. Und es handelt von Menschen, die sich über ideologische Grenzen hinweg verständigen.
Es ist ein gutes Buch.
Drei Tage hat er gebraucht, um es vorzulesen. Sie hat ihm wenige Pausen gegönnt. Und er war froh, etwas zu tun zu haben.
Nun ist es vorüber und er fühlt sich, als würde er eine Erkältung bekommen. So viel spricht er sonst in zwei Jahren nicht.
Aber es ist gut, denn die Kleine denkt nun über etwas anderes nach als das, was ihr wiederfahren ist. Sie beweint nicht mehr ihr Schicksal.
Zu Tode erschöpft von der fast ununterbrochenen Wachphase schläft sie ein. Und Erik schließt ebenfalls die Augen.
*****
Als sie aufwacht, ist ihr sofort bewusst, wo sie sich befindet. Aber diese Erkenntnis hat ihren Schrecken verloren.
Der Große – sie hat ihn noch immer nicht nach seinem Namen gefragt – schläft. Sie weiß das sicher, denn ihr Kopf liegt auf seiner Brust. Sein leichtes Schnarchen lässt sie fast mit vibrieren.
Aber es war auch dieses Schnarchen, das ihr den Halt gegeben hat, wenn sie aus dem Schlaf hochschreckte. Die Träume sind vage geblieben. Dank des… Nazischweins.
Langsam öffnet sie die Augen und blickt auf seine Haut. Hakenkreuze sind nicht das Einzige, was dort eigentlich ihre Wut erregen musste. Aber diese Gedanken sind so fern…
Wie er ihr vorgelesen hat… Anfangs so unsicher und dann immer fester. Er kannte das Buch schon. Aber welche Glatze liest denn solche Bücher?
Oder erschlägt in Sekundenschnelle vier andere Glatzen, was das angeht?
Er wird ihr nicht wehtun. Das hat er gesagt und jetzt glaubt sie ihm.
Er hätte schließlich auch schon längst gekonnt. Er ist so stark, dass sie es kaum fassen kann. So unglaublich groß und massiv und…
Schluss damit. Das führt nirgendwohin!
‚Vielleicht ist er ja schwul?‘, fragt sie sich dennoch weiter.
Gedankenverloren fährt sie mit dem Finger das Symbol der Schreckensherrschaft nach, deren ewig gestrige Anhänger sie ihr Leben lang gehasst hat.
Nein. Er ist nicht schwul. Sein Ständer mag schlafbedingt sein, aber er reagiert ganz bestimmt auf ihre Anwesenheit.
Es ist warm im Raum. Stickig nach so vielen Tagen. Es müssen viele gewesen sein…
Lisa löst sich langsam von ihm und richtet sich auf. Sein Schnarchen verstummt. Aber es spielt keine Rolle.
Oder vielleicht spielt es auch die Hauptrolle…
Langsam zieht sie sich das Kleid aus. Es bedeutet ihm etwas. Das hat sie ihm angesehen. Aber es ist zu warm.
Sie hat nichts sonst. Aber sie braucht auch nichts sonst. Es ist warm. Sie ist sicher. Er wird ihr nichts tun.
Sie legt sich wieder hin. Schmiegt sich an den schrecklichen Körper. Fährt wieder mit dem Finger die Konturen nach.
Lisa hasst dieses Symbol. Das ist eine Tatsache.
Er ist wach. Kein Zweifel. Und seine Erregung steigt.
„Du bist kein Nazi“, stellt sie fest.
„Nein.“
„Aber du warst einer.“
„Ja.“
„Hast du jemals…?“
„Nein!“
Er sagt es so hart und leidenschaftlich, dass sie nicht zweifelt.
„Warum dann?“
Sie muss es wissen!
„Meine Familie hing an dieser Idee wie an einer Lieblingsjacke“, erklärt er. „Ich habe selten über den Tellerrand gesehen. Aber wenn ich es tat, waren da nur die Türken, die Russen und die anderen Gruppen. Nur Feinde. Aber gemeinsam waren wir stark.“
„Also musstest du dazugehören. Zum Schutz…“
„Nein. Ich glaubte. Wahrscheinlich mehr als die meisten anderen, weil ich mehr über die Vergangenheit wusste.“
„Aber…?“
Er stockt.
„Kein Aber. Ich habe erst im Knast verstanden, dass jede Ideologie Blödsinn ist und es nur einen Gott gibt.“
„Du glaubst an Gott?“, keucht sie erstaunt.
Das kommt überraschend!
„Jeder glaubt an diesen Gott. Geld ist allmächtig und seine Macht ist unübersehbar.“
Lisa schweigt. Das muss sie überdenken.
Geld. Kapitalismus. Nationalsozialismus.
Wie kann er angenehm riechen, obwohl er sich tagelang nur gewaschen hat?
Wie schlimm riecht sie selbst wohl?
Würde es ihn stören?
Als sie seine Brust küsst, fragt er:
„W-was tust du?“
Lisa spürt eine Welle der Wärme und Zuneigung, als sie diesen hilflosen, unsicheren Tonfall hört.
Er ist so stark. Er hat ihr das Leben gerettet. Und nun ist er hilflos.
„Nichts…“, haucht sie, kombiniert mit einem zweiten Kuss.
„Kleines…“
„Lisa“, korrigiert sie.
Er will etwas antworten, aber sie rutscht zu ihm hinauf.
Er trägt noch seine Hose. Nur das Shirt hat er irgendwann abgelegt. Aber trotzdem spürt sie seinen Schwanz an ihrem Bein, als sie es darüber gleiten lässt.
Sie küsst seine Lippen und er starrt sie an.
Angst steht in seinem Blick.
Angst?
Vor ihr?
Sie schaut genauer hin.
Er ringt mit sich. Kämpft.
Er…
Er will ihr nicht wehtun!
„Mach mir schöne Erinnerungen und töte die schlechten, wie du die Bastarde getötet hast“, wispert sie.
Warum weint sie dabei?
„Kleines…“, stöhnt er gepresst, denn sie reibt ihren Unterleib an seinem Ständer. „Lisa…!“
„Ja! Sag meinen Namen. Und sag mir deinen, damit ich ihn schreien kann, wenn ich komme…“
Das ist verrückt. Ohne jeden Zweifel.
Aber sie kann nicht anders. Er… braucht es. Und sie… will es.
Ruckartig richtet er sich auf. Aber Lisa hält sich fest. Schließt ihn in die Arme und presst ihre Brust an seine.
Seine Kiefer mahlen. Eine Ader an seiner Schläfe pocht.
Er kämpft. Für sie. Um sie zu schützen.
‚Ja!‘, denkt sie. ‚Kämpf weiter. Kämpf, bis du nicht mehr kannst. Und dann fick mich…‘
„Wir können nicht…!“, grunzt er.
„Du kannst. Ich fühle es sehr deutlich“, haucht sie lockend.
„Du… Ich…“, stammelt er.
Hilflos drückt er sie gegen die Wand und versucht, ihre Arme an seinem Nacken zu lösen.
Lisa schlingt dafür die Beine um seine Hüften.
Ihr Stöhnen ist ungeplant, aber was soll sie tun? Er fühlt sich einfach so gut an.
„Wir sollten nicht… Du hast doch erst…“
„Ich wollte noch nie einen Mann so sehr wie dich“, sagt sie. Es sprudelt einfach heraus. „Ich hasse, was du darstellst. Und ich liebe, was du bist…“
„Du kannst nicht…“, knurrt er fast schon wütend.
„Ich kann…“
Mit den freien Händen greift sie nach unten und öffnet seine Hose.
Sex war immer ein netter Zeitvertreib und eine Drohung zugleich. Aber niemals exakt im gleichen Moment. Niemals so wie jetzt.
Er ist pure Gewalt. Er ist so groß, dass es wehtun wird. Und es wird wunderbar sein.
„Fühlst du“, fragt sie, „wie sehr ich dich will…?“
Seine Eichel liegt frei und steht vor ihrer Muschi.
Es ist feucht dort. Sie weiß es.
Er vibriert vor Anspannung. Seine Muskeln sind zum Zerreißen gespannt. All seine Kraft auf die Beherrschung konzentriert.
Er starrt sie an.
Seine Augen verraten, wie sehr er sie will. Mehr als alles andere.
Aber er wird es nicht tun. Wegen ihr wird er nicht aufgeben.
Etwas passiert. Aber nicht bei ihm. Bei ihr. In ihr!
So ist es noch nie gewesen.
Er berührt doch nicht einmal ihren Kitzler…
„Gott!“, presst sie hervor. „Ich komme! Deinen Namen!“
„Was?!“
„Deinennamen!“
„Erik?“
Alles dreht sich…
Um Erik…
Instinktiv zieht sie mit ihren Beinen an ihm, während ihr schwindelig von einem Gefühl wird, wie sie es sonst kaum selbst hervorrufen kann.
Sie zieht, aber er bleibt standhaft. Rührt sich keinen Millimeter.
Im Gegensatz zu Lisa…
„OhmeinGottErik!“, schreit sie.
„Fuck!“, stöhnt er zur gleichen Zeit.
Es ist, als würde eine kleine Faust in ihren Körper eindringen.
Der Schmerz ist so intensiv, dass er nicht mehr wehtut.
Er tut… guuut!
„Sag-mir…“, japst sie, „du-mich-liebst!“
„Fuck!“, stöhnt er wieder.
Immer weiter und weiter sprengt er sie auf. Das Gefühl rast durch ihren ganzen Körper.
Sie bekommt keine Luft…
„Nie-mals-ver-lass-sen…“, winselt sie hilflos.
„Lisa!“
‚Ja!‘, denkt sie, während sie vor Glück aufschreit. ‚Ja! Er tut es!‘
Erik verliert den Kampf mit seiner Selbstbeherrschung und seine Hüfte bewegt sich.
Die Intensität ist unerträglich. Aber Lisa will mehr.
Niemals in ihrem Leben hat sie sich so lebendig gefühlt, wie in diesem Moment.
Der Mann vor ihr mit den Hakenkreuz-Tätowierungen ist ihr personifizierter Teufel. Und trotzdem rettet er ihre Seele.
Die Jahre des ewigen Katz-und-Maus-Spiels mit all den anderen Jugendlichen der Gegend sind vorbei. Lisa hat einen Mann gefunden. Und an seiner Seite wird sie niemand anderen mehr mit ihrem Körper bezahlen müssen. Nur noch ihn, bei dem die Rechnung sie fast umbringt.
Ihr unterentwickeltes Schmerzempfinden hat endlich einen würdigen Gegner gefunden. Und ihr abgestumpfter Verstand ist endlich hellwach.
Sie fühlt!
Sie weiß nicht, wie tief er in ihr steckt. Aber sie fühlt, wie er kommt.
Er schreit es heraus, aber sie fühlt es auch.
Dann stößt er einmal zu und ihr gehen fast die Lichter aus.
Ihre Körper pressen sich aufeinander und er ist in ihr. Ganz und gar in ihr.
Er hat einen Punkt passiert, den niemals zuvor ein Mann erreicht hat. Aber ihm gelingt es und er verströmt sich dort, wo er die Saat für neues Leben pflanzen könnte.
Seit Jahren fürchtet sie das Leben.
Nun – noch nicht sofort, aber bald – fürchtet sie zum ersten Mal den Tod.
Eines der Ergebnisse meiner Phase, in der ich einige ‚Gegensätze ziehen sich an‘ Ansätze angefangen habe. Zecke/Ausländerin/Pazifistin liebt Skin/Hooligan – das war die vage Ausgangslage und bei diesem Ding hier kam die – für mich doch eher neue – 3te Person Präsenz als Perspektive dazu.
Ich würde es nicht fertig nennen, aber als ich es gestern mal wieder zur Hand nahm, fand ich es auch nicht unfertig. Mir kam es so vor, als würde die Perspektive mit dem Thema harmonieren und ich wollte mal sehen, wie andere das empfinden. Betrachtet es als Kurzgeschichte. Ob ich es weiterschreibe, werde ich sehen, aber so kann man es mit offenem Ende ja durchaus stehen lassen.
Interessieren würde mich, was für Gefühle es weckt und ob es eben wirkt.
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