Immerhin verzichtete Frau Nudova auf die sonst häufig zum Abschluss geschwommene Staffel, bei der man ja relativ lange Zeit außerhalb des Wassers auf seinen Einsatz wartet. Trotzdem war diese Stunde die schlimmste Schwimmstunde, die Sara je erlebt hatte. Auch weil die sonst meistens höchstens ein oder zwei Minuten dauernde Besprechung am Ende dieses Mal von Julian absichtlich in die Länge gezogen wurde. Waren es sonst normalerweise kurze Monologe von Frau Nudova, die sich die Klasse brav aber weitgehend uninteressiert anhörte, stellte jetzt Julian mehrere Verständnisfragen zu technischen Details des Rückenschwimmens, während die seit mehr als einer Stunde splitterfasernackte Sara neben ihren mit Badesachen bekleideten Mitschülern stand und darauf wartete, endlich erlöst zu werden.
Frau Nudova durchschaute Julians Vorhaben, Saras Leidenszeit zu verlängern, nicht nur nicht, sie lobte sogar noch dessen vermeintlichen Eifer.
„Es freut mich zu sehen, wie ernst Du Deine Aufgabe als nicht aktiv Mitschwimmender genommen hast. Nicht nur, dass Du jetzt in der Abschlussbesprechung gezeigt hast, dass Du Dich mit dem Thema beschäftigt hast. Nein, auch dass Du während des Übens immer wieder Deinen Mitschülern Tipps gegeben hast, weil man von außen viele Dinge einfach besser sieht, finde ich toll.“
Welche „Dinge“ Julian von außen besser sehen konnte, konnte sich nicht nur Sara denken.
„Und, Sara? Es war doch gar nicht so schlimm, oder? Nach ein paar Minuten vergisst man doch, dass man nackt ist und konzentriert sich ganz auf die Bewegungen.“
Obwohl, oder gerade weil Frau Nudova das, was sie sagte, sehr wahrscheinlich wirklich genau so meinte, anders als Frau Lehmann, die heuchlerische Schlange, trafen Sara die Worte ins Mark. Nochmal extra zu betonen, dass eine knapp 16-jährige Schülerin gezwungen war, eine ganze Schwimmstunde in kompletter Nacktheit mitzumachen, erniedrigte die Leidgeprüfte zutiefst.
Um weiteren Demütigungen zu entgehen, griff Sara in den darauf folgenden Wochen auf eine Taktik zurück, die Frau Nudova am Anfang des Schuljahres mit Verweis auf Hygienevorschriften ausdrücklich verboten hatte, die bei den meisten Schülerinnen und, soweit Sara wusste, auch bei den männlichen Schülern aber weit verbreitet war: sie zog ihren Badeanzug schon zuhause unter ihre normale Kleidung. Machten die anderen das, um zu vermeiden, sich in der Umkleide entblößen zu müssen, so war Sara daran gelegen, zumindest in der Schwimmhalle bekleidet zu sein.
Erstaunlicherweise hielt sogar Vanessa wieder mehrere Wochen die Füße still. Vielleicht, weil fast alle Mädchen Frau Nudovas Anweisung, die Badeanzüge bzw. Bikinis eben nicht bereits Stunden vor dem Schwimmen anzuziehen, ignorierten. Warum auch immer: Sara freute sich, dass sie Ruhe hatte.
Diese Ruhe hielt bis Weihnachten. Die Adventszeit war eigentlich wie die Jahre davor auch. Kerzen in den Klassenzimmern, Geschichten, einige Lehrer zeigten mehr DVDs als dass sie Unterricht machten. Vor allem aber gab es keine Prügelstrafen, und Sara nahm in Badebekleidung am Schwimmunterricht teil.
Ende Teil 24
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