(Als der Arlberg-Express wegen Lawinengefahr nicht weiterfahren kann und
die Leute in Busse umsteigen müssen, trifft Gregor die einbeinige Zsuzsa,
mit der er spontan beschliesst, anstatt nach Wien weiterzufahren, einen
kurzen Italienurlaub anzutreten… )
1. Tag
Es war ein trüber Tag im März. Gregor machte sich auf den Weg von
Vorarlberg, wo er beruflich mehrere Tage zu tun gehabt hatte, nach Wien, wo
die Zentrale seiner Firma lag und er auch seinen Wohnsitz hatte. Er bestieg
in Feldkirch den Zug, der wie an vielen anderen Freitagen überfüllt war. In
der ersten Klasse des „Transalpin“ fand er jedoch einen akzeptablen Platz,
auf dem er sich niederliess. Er packte einige Zeitschriften und seinen
Walkman aus, damit rechnend, dass er die nächsten acht Stunden mit Lesen
und Musikhören verbringen würde. Draussen begann es immer heftiger zu
schneien, und er war froh, im Trockenen zu sein und die Wärme im Waggon
geniessen zu können.
Er war mit sich und den Gesprächen mit den Vorarlberger Kunden in den
letzten Tagen recht zufrieden und freute sich nicht nur auf das kommende
Wochenende, sondern auch auf eine freie Woche danach. Er hatte schon im
September diese Urlaubswoche reservieren lassen, um mit seiner damaligen
Freundin in die Türkei zu reisen, dann aber war es mit der Beziehung bergab
gegangen und noch vor Weihnachten zur Trennung gekommen. Die Woche war dann
völlig in Vergessenheit geraten, und als er kürzlich von seinem Chef auf
den bevorstehenden Urlaub angesprochen wurde, fiel ihm die Vormerkung
wieder ein. Spontan hatte er sich dann entschieden, diese Urlaubswoche
anzutreten, obwohl die Pläne, wegzufahren, längst verworfen waren. Daher
freute er sich nun auf die freien Tage ohne Türkei.
Der Zug hielt in Bludenz, wo der Sturm die Schneewolken über das
Bahnhofsgelände trieb. Ihm fiel gleich eine gewisse Hektik des
Bahnhofspersonals draussen auf, die er zunächst nicht zu deuten vermochte.
Dann meldete der Zugchef über die Lautsprecher, dass wegen Lawinengefahr
die Strecke über den Arlberg gesperrt worden war und der Zug nicht
weiterfahren könne. Ein Schienenersatzverkehr mit Autobussen stünde auf dem
Bahnhofsvorplatz bereit und würde die Fahrgäste nach Landeck auf die andere
Seite des Passes bringen, wo eine Ersatzgarnitur sie aufnehmen und Richtung
Wien weiterbefördern werde.
Missmutig packte Gregor seine Sachen ein und verliess den Zug. Das Chaos
draussen war beträchtlich. Frustriert schleppte er seinen Koffer und die
Tasche mit den beruflichen Utensilien – wie schwer doch ein Notebook sein
kann!
Die Leute vor ihm überholten eine junge Frau, die sichtlich hinkend eine
grössere Tasche und einen Skisack trug. Ihre Figur, von hinten betrachtet,
gefiel ihm und er verlangsamte, sie weiter musternd, seinen Schritt. Sie
war ein wenig kleiner als er, vielleicht einen Meter siebzig gross, lange
sehr dunkle Haare, hinten zu einem Schweif zusammengebunden, schlank, aber
nicht dünn. Sie trug eine kurze Strickjacke mit Kapuze. Die Jacke betonte
ihre Taille, während das ansprechende Gesäss in einer etwas weiter
geschnittenen Jeanshose steckte, die auch auf lange Beine schliessen liess.
Dazu trug sie Stiefel mit niedrigen Absätzen. Ihr Hinken führte er auf
einen Skiunfall zurück, ganz zum Sack passend, mit dem sie sich abmühte.
Sie hielt kurz an, um zu rasten, was ihn zwang, sie zu überholen. Auf
gleicher Höhe trafen sich ihre Blicke. „Welch ein Gesicht!“, durchfuhr es
ihn und er sah nicht ungern, wie sie ihn verlegen anlächelte. „Ich würde
Ihnen gerne helfen, bin aber selbst bepackt wie ein Lastesel“, sagte er und
war froh, dass ihn eine so launige Reaktion eingefallen war. Ihre sanfte
Antwort: „Macht nichts, es geht schon“, war für ihn Anlass, seinen Schritt
beim Weitergehen ihrem Tempo anzupassen und neben ihr herzugehen. Im
folgenden Small Talk fand er heraus, dass sie nach Bratislava unterwegs
war. Aufgrund ihres Reisezieles und ihrer Aussprache war anzunehmen, dass
sie aus der Slowakei stammte. Sie machte sich Sorgen, aufgrund der
Fahrtunterbrechung den Anschlusszug in Wien zu versäumen.
Beim Bus angekommen, verstaute Gregor gleich sein Gepäck im grossen
Kofferraum des Fahrzeuges und brachte dann ihres daneben unter. Der Skisack
fühlte sich eigenartig an, als wäre nur ein Ski drin. Er dachte nichts
weiter dabei und enterte nach ihr den Bus. Die Stiegen nahm sie zuerst
immer mit dem linken Bein und zog dann das rechte Bein ziemlich steif nach.
Sie liess sich auf einer Bank im vorderen Drittel des Busses nieder und
rückte gleich zum Fenster, deutlich machend, dass sie erwartete, er würde
sich neben sie setzen. Nachdem sie ihre Jacke ausgezogen hatte, nahm Gregor
den Nachbarplatz ein, nicht ohne bemerkt zu haben, dass ihre Bluse, die
vorher in der Jacke verpackt war, nun auf zwei schöne Brüste schliessen
liess.
Dann ergriff sie mit beiden Händen die Lehne des Vordersitzes, zog sich ein
wenig hoch und sank vorsichtig mit leicht verzogenem Gesicht wieder in den
Sitz zurück. Er versuchte es weiter auf die launige Tour und fragte sie, in
welchem Krieg sie gekämpft hätte. Sie lächelte wieder verlegen und zögerte,
ehe sie sagte: „Ich habe mich mit einem Zug duelliert, natürlich war er
viel stärker und hat gewonnen.“ Auf seinen verdutzten Gesichtsausdruck hin
fuhr sie fort: „Er fuhr in den Bahnhof von Presov, wo ich studiere, hinein,
die letzten Meter. Ich hatte es eilig und sprang auf den Bahnsteig hinaus.
Es war Winter, und dort war Eis. Ich glitt aus, mein rechtes Bein kam
unters stehen bleibende Rad. Seither trage ich eine Prothese, und die tut
mir jetzt weh, weil ich beim Skifahren gestürzt bin und mir an der Hüfte
einen riesigen blauen Fleck geholt habe,“ begründete sie damit auch gleich
ihre Verrenkungen.
Gregor schluckte einige Male, die Antwort war ziemlich anders als er sie
erwartet hatte. Es verschlug ihm kurz die Rede, aber er fasste sich rasch
wieder, ehe er sagte: „Und ich dachte, sie würden mir jetzt erzählen, der
Feind wäre ein Liftbügel irgendwo in der Schweiz gewesen.“
Dann lehnte er sich kurz zurück. Es war nicht das erste Mal, dass er ohne
es zu wissen eine ungewöhnliche Frau anzubraten begonnen hatte. Seine
früheren Freundinnen hatten etliche Attribute gehabt, die nicht ins
Repertoire der so genannten Normalität gepasst hatten und er hatte gelernt,
die Makel einer Person zu schätzen, was den Umgang mit der gegebenen
Situation nun erheblich erleichterte.
Seine Sitznachbarin sah ihn mit ihren wunderschönen dunkelblauen Augen an,
ehe sie amüsiert schmunzelte: „So hat mich auch noch keiner gefragt“, und
fügte dann mit ernsterem Gesichtsausdruck hinzu: „Ich würde es schade
finden, wenn Sie das stört“, und deutete auf ihr rechtes ‚Bein‘.
Gregor hatte noch keine Vorstellung, was da auf ihn zukam, aber nichts auf
der Welt hätte ihn abhalten können, sie weiter zu umwerben. „Sollte es
das?“, gab er daher keck zurück. „Nun ja, die meisten Männer stört es
schon, auch wenn manche gut erzogen zunächst das Gegenteil behaupten“;
meinte sie mit misstrauischem Unterton. Gregor sah sie verwundert an: „Ich
finde Sie sehr nett und ungemein hübsch und habe noch nie meine Sympathien
für eine Frau an deren rechter Ferse gebunden.“
Jetzt war sie an der Reihe, verblüfft zu sein, liess sich aber sehr rasch
auf diese Argumentationsebene ein, als sie lächelnd fortsetzte: „Und auch
nicht an das rechte Knie?“
„Das fällt mir zugegebenermassen schwerer, denn ich finde die Knie einer
Frau sehr erotisch. Aber das linke Knie ist, wenn ich richtig informiert
bin ja noch da und gar so anders wird das rechte sicher nicht ausgesehen
haben.“
Beide lachten, dann musterte sie ihn wohlwollend von der Seite. Er hatte
ihr gleich vom ersten Moment ihrer Begegnung an gefallen. Hellbraune,
vielleicht eher dunkelblonde Haare, ziemlich lang und gut geschnitten,
blaue Augen, ausdrucksstarkes Gesicht, nicht gerade dünn aber auch nicht
dick und ganz sicher nicht blöd“, dachte sie in sich hinein. Ausserdem
hatte sie das Gefühl, er sei kein Kind grosser Traurigkeit. Seine Nähe tat
gut, das spürte sie.
Es war nicht Gregors erster Kontakt zu einer Slowakin und er hatte die
Frauen in früheren Begegnungen stets als offene und herzliche Menschen
erlebt. Sie war offenbar auch von dieser Art und dies fand er über ihre
körperlichen Reize hinaus ungemein anziehend.
Die Zeit im Bus verging rasch, insbesondere als er seine Kenntnisse über
die Slowakei auspackte. Gregor hatte in den Jahren zuvor berufliche
Kontakte dorthin gehabt, insbesondere nach Banska Bystrica und auch nach
Presov, was sie sichtlich beeindruckte. Sie selbst stammte aus Zvolen,
einer alten Stadt und wichtigem Bahnknoten südlich von Banska Bystrica, war
also aus der Mittelslowakei, lebte aber wegen ihres Studiums in Presov, das
sie trotz ihrer Tragödie im Bahnhof sehr schätzte. Erzählen machte ihr
grossen Spass und er genoss ihren liebenswürdigen Akzent, der die
Sc***derungen begleitete. Beiläufig hatte er auch ihr Alter erfahren, sie
war dreiundzwanzig Jahre alt, fünf Jahre jünger als er. Mit Zufriedenheit
registrierte er, dass immer wieder ihre Blicke aneinander hängen blieben.
Sie hatte tatsächlich dunkelblaue Augen, an denen er sich kaum satt sehen
konnte, aber dies war nicht der einzige Grund, von ihnen nicht loszukommen.
Er hatte ein starkes Gefühl, sie kriegen zu wollen und spürte ein wohliges
Knistern, wenn er sie betrachtete. Für ihn gab es ziemlich bald keinen
Zweifel, dass nicht nur sie ihm, sondern auch er ihr gefiel. Sie erwiderte
das Flirten, das ihr auch die Ehrlichkeit seiner Worte deutlich machte, und
genoss das untrügliche Gefühl, im Fokus seines Begehrens zu stehen. Eine
solche Situation war seit ihrem Unfall rar geworden und sie kokettierte mit
dem Verlangen in ihrem Inneren. Ihre Ängste, sich zu täuschen, hielt sie im
Zaum, zumal sie es geschafft hatte, gleich unmissverständlich deutlich zu
machen, was mit ihr los war.
In Landeck angekommen, war es für ihn keine Frage mehr, dass er eine
aussergewöhnliche Reisepartnerin gefunden hatte, die aus ihrem Sympathien
ihm gegenüber keinen Hehl machte. Sie gab ihm das Gefühl, dass sie das
Zusammensein mit ihm ernsthaft mochte, und nahm es auch selbst wahr. Es war
unausgesprochen klar, dass sie ihre Reise nun gemeinsam fortsetzen würden.
Als sie aus dem Bus stiegen, fragte sie: „Macht es ihnen was aus, wenn ich
Ihren Koffer mit Rollen nehme und Sie meinen Skisack? Der ist derart
sperrig, dass ich stets das Gefühl habe, er geht mit mir und nicht ich mit
ihm.“ Beide lachten und Gregor störte plötzlich das „Sie“. Er blieb stehen,
zögerte und sagte dann: „Sollten wir nicht zum Du wechseln?“ Und als sie
nickte, hielt er ihr die Hand hin: „Ich heisse Gregor.“
„Und ich bin Zsuzsa“, sagte sie, während sie seine Hand lange drückte.
Dann gingen sie mit ihrem Gepäck langsam zu Ersatzzug. Sie tat sich dabei
sichtlich schwer und ihr Gesicht wurde sehr ernst. „Verdammter Bluterguss“,
murmelte sie, als sie kurz stehen blieb. Schliesslich standen sie auf dem
Bahnsteig vor einem Wagen erster Klasse und Gregor schickte sich an, das
Gepäck durch die offene Einstiegstüre auf die Plattform zu schieben. Sie
zögerte. „Ich habe nur eine Fahrkarte zweiter Klasse“, sagte sie. „Und ich
möchte Dich einladen, mit mir in der ersten Klasse zu reisen, dort ist es
netter und viel bequemer. Ich zahle den Zuschlag wirklich gerne für Dich.“
Sie lächelte, nahm die Einladung an und hielt ihm dann ihre grosse Tasche
hin.
Sie fanden rasch ein leeres Abteil und Zsuzsa setzte sich seufzend nieder,
während Gregor das Gepäck über ihr verstaute. Als er den Skisack hinauf
hob, fiel ihm wieder der eine Ski darin ein. Natürlich, sie fuhr sicher mit
einem Ski, aber wie? Das wollte er sie später fragen.
Jetzt setzte er sich schweigend neben sie. Zsuzsa sah sich um. „Damals war
es auch ein Wagen erster Klasse“, sagte sie plötzlich. „Wann?“ fragte er
unaufmerksam. „Als ich unter den Zug geriet“, verdeutlichte sie. „Fuhrst Du
denn in der ersten Klasse?“, fragte er erstaunt. „Nein, aber da ich es
eilig hatte, ging ich in einen solchen Waggon, weil sich dort noch keine
Menschentrauben vor den Türen gebildet hatten. Ich konnte rascher raus.“
„Ich kenne den Bahnhof von Presov, erwiderte Gregor, „seine Bahnsteige habe
ich in schlechtester Erinnerung. Dort besteht stets akute Sturzgefahr, ob
beim Ein- und Aussteigen, beim Überschreiten der Gleise, aber auch schon
beim Gehen auf den Schotterhügeln, anders kann man die zu Gleis steil
abgeschrägten Steige kaum bezeichnen. Ganz zu schweigen von Situationen, in
denen man abspringt, ehe der Zug steht.“
„Ich dachte, er wäre schon stehen geblieben, aber er fuhr noch einen Meter,
das reichte. Das Rad stand genau auf meinem Knie.“
„Hast Du das alles mitgekriegt?“, fragte er mit belegter Stimme. „Anfangs
schon, allerdings ohne die Konsequenzen erfassend. Es hat geknirscht und
ich habe gleich fürchterliche Schmerzen gekriegt. Aber es war zufällig ein
Arzt zur Stelle, der mir eine Spritze gab, dann wurde ich bewusstlos.“
„Also hier passiert Dir sicher nichts“, lenkte Gregor das Gespräch in
andere Bahnen, „Aber Schmerzen hast Du jetzt auch“, konstatierte er, als
sie sich zur Seite lehnte, um mit ihrer rechten Gesässhälfte nicht voll auf
die Sitzpolsterung zu drücken.
Sie nickte. „Die Prellung an der Hüfte und die Prothese mögen sich nicht,
der Prothesenrand drückt auf den Bluterguss, das tut ziemlich weh“;
erläuterte sie.
„Was kann man dagegen tun?“, fragte Gregor besorgt.
Zsuzsa schluckte. „Die Prothese ablegen und an Krücken gehen, aber das geht
jetzt nicht, ohne das Kunstbein kann ich nicht reisen, um das Gepäck zu
tragen brauche ich zwei Beine und freie Hände.“
„Wir fahren jetzt über sechs Stunden bis Wien, es gibt in dieser Zeit
nichts zu schleppen, mach es Dir doch bequem:“
Sie zögerte, sah ihn nachdenklich an und fragte dann: „Bist Du sicher, es
stört Dich nicht, wenn ich inkomplett neben Dir sitze?“
„Lass es uns doch einmal ausprobieren, auf Dauer kämen wir an diesem
Problem ohnehin nicht vorbei“, konterte er.
Zsuzsa lächelte ein wenig gequält und registrierte sehr wohl die auf
längeren Kontakt gerichtete Bedeutung seiner Worte, während in Gregor
ungeordnet Bilder aus seiner, wie er selbst sie nannte, eigenartigen
Biographie der Beziehungen zu Frauen auftauchten. Seine erste Freundin, er
war gerade 16 geworden, war schwere Diabetikerin. Er erinnerte sich, dass
ihr damals, mit 15, wegen Durchblutungsstörungen schon mehrere Zehen
fehlten. Seine letzte Flamme war hochgradig sehbehindert. Sie hatte so
starke Brillen gehabt, dass sie praktisch zwei Gesichter, eines mit Brille
und ein sehr schönes ohne Gläser hatte. Auch dazwischen gab es kaum eine,
die nicht deutliche Differenzen zum Normalen gehabt hätte.
Streng genommen hatte er schon damit gerechnet, dass er wieder auf
Ungewöhnliches stossen würde, war deswegen in der aktuellen Situation
keinesfalls unglücklich und fühlte sich in seiner Rolle, vom Anderssein
angezogen zu werden, bestätigt. Auch seine Diplomarbeit an der Universität
passte zum Thema, in ihr hatte er als angehender Soziologe die
Stigmatheorie des amerikanischen Sozialwissenschaftlers Erving Goffman
analysiert und kommentiert. Eine der dort beschriebenen Formen des Stigmas
war die Amputation gewesen, Goffman hatte an mehreren Stellen das Schicksal
einbeiniger Frauen angesprochen. Gregor hatte dies interessiert registriert
und auch zitiert, nun stand er plötzlich in der Praxis vor diesem Thema.
Zsuzsa fasste einen raschen Entschluss. Sie wollte es nun genau wissen.
„Gib mir bitte den Skisack wieder herunter und mache ihn auf, da sind die
Krücken drin.“ Gregor öffnete den Sack. Neben dem Ski fand er zwei Paar
Krücken, ein kurzes Paar mit kleinen Skiern dran und ein längeres mit
Gummistoppeln an den Enden. „Na klar“, dachte er bei sich, „mit Krücken
fährt sie, so habe ich einen Mann schon einmal fahren gesehen.“ Das andere
Paar war schwarz, an der Unterarmklammer mit dunklem Leder überzogen und
mit gepolsterten Griffen versehen. „Sind es diese?“, fragte er. Zsuzsa
nickte, nahm dankend die Krücken und legte sie neben sich.
Sie stand auf, ging zur Abteiltüre und zog die Vorhänge zu. „Soll ich
rausgehen?“ fragte Gregor. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, bleibe bitte da,
ich möchte, dass Du jetzt dabei bist, wenn ich mich umziehe. Ich fühle mich
sicher wohler, wenn ich Dir nachher noch immer gefalle.“
Dann öffnete sie den Gürtel ihrer Hose und zog die Jeans hinunter. Gregor
verschlug es den Atem. Auf der linken Seite kam ein wohlgeformter, schwarz
bestrumpfter Oberschenkel zum Vorschein. Der Strumpf hing an einem
Strumpfhalter, ungemein erotisch. Rechts die Prothese, auch mit schwarzem
Strumpf bedeckt, der an den Strapsen hing, dazu ein Gürtel um die linke
Hüfte, der offenbar dem Festhalten der Prothese diente.
Zsuzsa öffnete zuerst diesen Gürtel, löste dann den rechten Strumpf von den
Strapsen und rollte ihn bis aufs „Knie“ hinunter. Sie drehte an einem Knopf
über der Mitte des Prothesenoberschenkels. Mit einem Ruck zog sie die
rechte Hüfte hoch und dann kam ein kurzes Stück Oberschenkel zum Vorschein,
höchstens ein Drittel, eher nur ein Viertel der ganzen Länge ihres linken
Schenkels. Sie zog einen Trikotstrumpf vom Stumpf und stand nun da, so wie
sie wirklich war und offen sichtbar mit dem, was von ihrem rechten Bein
übrig war. Sie legte die Prothese auf den Abteilboden.
Dann richtete sie sich wieder auf. Sie hielt den Stumpf leicht nach vorne
gebeugt. Er war eine Spur schlanker als der linke Oberschenkel, und auf der
flach abgerundeten Kuppe war eine ausgeprägte rote Narbe zu sehen. An der
Hüfte über ihm war ein grosser schwarzblauer Fleck, grösser als eine Hand.
Zsuzsa beobachtete Gregor von der Seite. Er war noch nie in seinem Leben
mit einer solchen Situation konfrontiert worden, empfand nun aber keinerlei
Abscheu oder Ablehnung. Ganz im Gegenteil. Er fühlte Wärme und Zuneigung in
sich aufsteigen, und wenn er auf die Strapse blickte, die vor dem Schenkel
spannten und vor dem Stumpf baumelten, konnte er die Erregung kaum
verbergen. Diese Frau war schön, so wie sie vor ihm stand, samt ihrem
Beinstumpf, den er als durchaus anziehendes Stück Oberschenkel empfand. Er
war fasziniert von dieser ungewöhnlichen Erscheinung.
Zsuzsa bekam gleichzeitig Angst vor ihrer Courage. Sie spürt plötzlich,
dass eine ablehnende Haltung Gregors sie schwer treffen würde. Sie begann,
sich für ihren Körper und ihre Aktion zu schämen, während sie wegen der
Fahrtbewegungen des Zuges zunehmend Probleme hatte, die Balance zu halten.
Sie versuchte zunächst kurz mit Erfolg, sich mit ihren Armen und ihrem, wie
Gregor ihn nun nennen wollte, kurzen Schenkel durch ausgleichende
Bewegungen aufrecht zu halten. Als der Zug aber in einer Kurve stärker
rüttelte, verlor sie endgültig das Gleichgewicht und fiel Gregor in die
Arme. Der gab ihr einen Kuss auf die Wange, hielt sie fest und flüsterte:
„Ich kann Dir gar nicht sagen, wie aufregend ich Dich finde. Du bist eine
schöne Frau. Ich mag Dich, wie Du bist.“
Zsuzsa stand mit hochrotem Gesicht noch einmal auf, zog die Jeans hoch,
faltete das rechte Hosenbein, steckte das untere Ende seitlich in den Bund
der Hose und machte den Gürtel zu. Dann setzte sie sich wieder nieder,
diesmal eng neben Gregor und sah ihn mit feuchten Augen an. „Ich habe
grosse Angst gehabt, Dir könnte vor mir ekeln“, sagte sie leise. Er
schüttelte den Kopf: „Es ist, wie ich sagte. Ich mag Dich, wie Du bist“,
wiederholte er. Sie blickten sich eine Weile in die Augen. Sie spürte sich
wunderbar angenommen, und sie fühlte, wie ihre Gefühle sie überwältigten.
Plötzlich sah er, wie ihr Mund sich näherte. Er nahm sie wieder in die Arme
und fand diesen Mund für einen wohlschmeckenden Kuss.
Eine Weile sassen sie umschlugen da, dann lehnte sich Zsuzsa zurück. Ihr
Blick fiel auf die Prothese, die noch mitten im Abteil lag. Sie hob sie
hoch und reichte sie Gregor, damit er sie in den Skisack stecken konnte.
„Komisch, ein Fuss im Skisack“, dachte er, ehe er den Sack zumachte und
wieder auf dem Gepäckträger verstaute.
Zsuzsa sass wieder zurückgelehnt da und schloss nun die Augen. „Bist Du
müde?“, fragte Gregor. Sie schüttelte den Kopf. „Ich geniesse den Satz, den
Du gesagt hast, er kreist regelrecht in meinem Kopf:“
„Welcher?“
“ Ich mag Dich, wie Du bist. Ich kann es noch kaum glauben“, murmelte sie.
Und dann mit einem Anflug von Panik: „Du meinst es doch ernst, nicht
wahr?“ Er zog sie an sich und nickte. „Mit einer solchen Aussage spasst man
nicht“, beruhigte er sie, sie nicht loslassend. Dann lehnte er sich zurück
und streichelte ihren Rücken. Er war mit sich und der Situation zufrieden.
Er wollte sie und sie öffnete sich ihm in einer Weise, die ihn beflügelte.
Dass er so offen und eindeutig agierte, gefiel ihm. „Liegt sicher an ihr“,
resümierte er in sich und nahm wohlig seine Zuneigung ihr gegenüber wahr.
Draussen schneite es noch immer stark, Schneewolken wehten vorbei, während
der Zug durch das Oberinntal pflügte. „Ein richtiges Sauwetter“, beschwerte
sich Gregor.
Zsuzsa blickte nun auch in Richtung Fenster. „Das kann man wohl laut
sagen“, nickte sie zustimmend. „Wie in der Schweiz. Die ganze Woche gab es
dort Wolken, Nebel und Schnee. Dabei hatte ich mit Frühling gerechnet.“
„Wo warst Du?“, fragte er.
„In Belalp, im Wallis.“
„Kenne ich, ich mag das Goms, in dem Belalp liegt. Eine wunderschönes
Hochtal im Gebirge, mit etlichen Orten an den Berghängen, wie Belalp, ein
faszinierender alter Ort in etwa 2000 m Seehöhe. Aber extrem ungut, wenn
das Wetter schlecht ist, nur Schneesturm pur. Wie bist Du dort
hingekommen?“
„Meine Tante lebt in der Schweiz, in Bern. Sie hat mich schon regelmässig
in den Ferien eingeladen, als ich noch ein Kind war. In Belalp hat sie ein
kleines Haus, eher kann man sagen, eine Skihütte.“
„Ein Chalet“, korrigierte Gregor.
„Genau, Du kennst Dich aus. Und wie bist Du in diese Gegend gekommen?“
„Ich habe einen Studienkollegen, der jetzt in Visp im Oberwallis lebt und
habe ihn schon öfters besucht. Ich war auch schon zweimal zum Skilaufen
dort, einmal eben in Belalp, allerdings bei Traumwetter.“
„Visp, das ist der grosse Ort im Tal, den man auf der Fahrt zum
Lötschenpass vom Zug aus überblickt, nicht wahr?“
Er nickte und ergänzte: „Visp ist auch der Ort im Tal, von dem aus man
Zermatt und Saas-Fee, die berühmten Orte in den Walliser Bergen erreicht.“
„In Saas war ich vor einem Jahr, da habe ich nach der Amputation wieder
Skifahren gelernt, meine Tante hat mir einen Kurs bezahlt.“
„Fährst Du gerne?“
„Ja, leidenschaftlich gerne, viel lieber als vorher mit zwei Skiern.
Krückenskilaufen finde ich super, gibt ein tolles Gefühl freier Bewegung
und ist aus meiner Sicht viel sicherer als normales Skifahren – ausser auf
einer riesigen Eisplatte“, schloss sie dann grinsend.
„Kann ich mir schlecht vorstellen“, erwiderte er.
„Glaube ich Dir, die Bewegung ist im Vergleich zum normalen Skilauf recht
unterschiedlich, obwohl grundsätzlich auch für Zweibeiner möglich, vom
denen die meisten natürlich nie auf die Idee kommen, das Fahren mit Krücken
zu versuchen. Am besten, wir gehen miteinander einmal Ski fahren, dann
kannst Du mir dabei zusehen“. Und dann mit interessiertem Blick auf ihn: „
Fährst Du gut?“
„Ich glaube ja, ich war sogar einige Jahre Skilehrer. Am Anfang meiner
Studentenzeit habe ich die Prüfung gemacht und dann in den Ferien Geld
damit verdient. Heute mache ich das nicht mehr.“
„Alle Achtung“, meinte sie anerkennend. „Was hast Du eigentlich studiert?“
„Soziologie. Und was machst Du?“
„Germanistik.“
„Ah, deshalb sprichst Du so gut Deutsch.“
„Meinst Du?“, fragte sie geschmeichelt und skeptisch zugleich. „Meine Tante
sagt immer, ich sollte mal länger bei ihr bleiben, damit ich nicht immer so
klinge wie eine weibliche Ausgabe des tschechischen Soldaten Schwejk.“
Beide lachten.
„Also ich finde Deinen Akzent äusserst sympathisch“, meinte Gregor und
spielte dann den Entrüsteten. „Streng genommen sollten die Schweizer in
dieser Angelegenheit nicht gross reden, die versteht nämlich unsereins
schlechter als Dich.“
Zsuzsa grinste. „Jetzt weiss ich, was ich ihr das nächste Mal sagen werde,
wenn sie mir wieder mit solchen Vorwürfen kommt“, kicherte sie dann.
Sie streckte sich. Dabei zog sie ihren Beinstumpf hoch, ein für Gregor
ungewohnter Anblick. Sie bemerkte seinen überraschten Blick und liess den
Stumpf wieder auf den Sitzpolster fallen. „Mein Frosch“, meinte sie dann.
„Wie bitte?“
Sie lächelte. „Ich sage Frosch zu ihm. Stumpf ist so ein hässliches und
negativ besetztes Wort. Schau, seine Kuppe ist, wie Du vorhin gesehen hast,
rund wie ein Froschmaul, dazu die Narbe wie eine Mundöffnung darauf. Daher
der Name.“
„Mir geht es bei dem Wort Stumpf auch nicht gut. Habe sogar Hemmungen, es
in den Mund zu nehmen. Ich werde ihn daher auch als kurzen Schenkel
bezeichnen.“
Sie sah ihn erfreut an. „Eine gute Idee“, pflichtete sie dann bei.
„Du magst Frösche?“, fragte er dann, auf ihre Namengebung anspielend.
„Ja, ich finde sie ganz lieb“, antwortete sie vergnügt, und fragte dann:
„Welches Tier hast Du am liebsten?“
„Die Katze“, antwortete Gregor ohne nachzudenken.
„Ja, die mag ich auch. Ich bin eigentlich eine Katze, eine dreibeinige.“
Gekicher. Dann hob sie wieder ihren ‚Frosch‘, der dabei in der Hose bebte.
Gregor betrachtete ihn mit interessierten Blick und meinte dann: „Ein
kleiner Frosch. Du hast erzählt, das Rad des Waggons stand auf Deinem Knie.
Muss man dann soviel vom Bein wegschneiden?“
Zsuzsa griff mit der Hand nach ihrem Stumpf, und hielt ihn hoch, während
sie den Kopf schüttelte. „Zuerst war er viel länger, mehr als zwei Drittel
des Schenkels. Aber der Notfallchirurg war wohl eine Vorgabe. Es sah aus,
als wäre das Bein unter ein Hackbeil geraten. Die Wunde war gross, hässlich
und heilte schlecht. Dann kam eine Entzündung dazu, mit Schmerzen, die
schrecklich waren. Eine zweite Operation wurde notwendig.“
„Wie haben sich die Ärzte für diesen Pfusch verantwortet?“
„Sie haben gemeint, das wäre alles geschehen, um möglichst viel von meinem
Bein für die prothetische Versorgung zu retten.“
Gregor schüttelte den Kopf. „Und dann musste man erst recht viel
wegschneiden.“
Zsuzsa zögerte. „Nun ja, ich wollte es so.“
„Wie?“
„Ich hatte das Theater satt. Als der Chirurg kam, um die Operation
vorzubereiten und etwas von ‚Knochen retten‘ und ‚prothesengerecht‘
faselte, habe ich gesagt: nur ja keine Verlegenheitslösung mehr. Lieber
kürzer, aber nachher keine Beschwerden. Und um der Sache Nachdruck zu
verleihen, habe ich ihm erzählt, dass ich Miniröcke über alles liebe und
nachher wieder welche tragen möchte, ohne mit dem Stumpf im Freien zu
stehen. Das hat gewirkt, das war für ihn als Mann offenbar einsichtig. Er
hat gegrinst und mit einem Stift die Schnittführung auf der Haut
vorgezeichnet. ‚So recht, Gnädigste?‘, hat er dann gefragt.“
„Ganz schön mutig“, warf Gregor ein.
„Dabei war mir elend zumute. Wer gibt schon gerne was von seinem Bein her“,
erläuterte sie.
„Und hat es sich gelohnt?“
Sie nickte. „Auf jeden Fall. Ich habe kaum Beschwerden, der Frosch ist
schön geformt und gut beweglich. Natürlich hat ein kurzer Stumpf auch seine
Grenzen, nicht zuletzt in Bezug auf das Tragen einer Prothese. Der Hebel
des verbliebenen Teils des Schenkels ist kürzer, das Gehen ist
anstrengender und etwas instabiler. Ich gehe daher gerne als Alternative
auch mit Krücken. Auf jeden Fall ist es mir lieber so als mit Schmerzen und
entstellenden Narben wie in den ersten Monaten nach dem Unfall“, schauderte
sie sich. Zsuzsa streichelte kurz ihren Frosch.
„Und die Miniröcke?“ fragte Gregor, provokant lächelnd. Sie blickte ihn
überrascht an und schmunzelte dann.
„Die kann ich tatsächlich wieder tragen, ohne dass man schon von weitem den
Frosch sieht. Allerdings fällt es mir meist nicht leicht, viel Bein zu
zeigen, weil nur mehr ein Fuss da ist.“ Und nach einer kurzen Pause:
„Vielleicht geht es besser an der Seite eines Mannes“, sagte sie und
lächelte ihn vielsagend an.
„Seit wann bist Du eine dreibeinige Katze?“
„Der Unfall ereignete sich vor etwas mehr als zwei Jahren, es war Ende
Jänner. Die zweite Operation war im September danach.“
„Das ist ja noch gar nicht lange her“, resümierte Gregor.
„Ja man merkt es an der Narbe, die noch tief rot ist und ich spüre auch
noch des Öfteren das amputierte Bein. Am Anfang war dieses Gefühl ganz
stark und ich bin auch mehrmals gestürzt, weil ich das Gewicht auf etwas
verlagerte, was nicht mehr da war. Aber jetzt sind die Erinnerungen schon
blasser, ich komme mit der Einbeinigkeit bereits recht gut zurecht.“
„Ich finde Deinen Umgang mit der Amputation sehr beeindruckend, man könnte
meinen, Du magst es so.“
Zsuzsa lächelte ein wenig verlegen und blickte zum Fenster hinaus. Draussen
weiter Flocken und Nebelsuppe. „Es scheint, als würde der Schneesturm immer
stärker. Dabei ist es März, Frühling“, dachte sie laut.
Der Zug ratterte auf Innsbruck zu. Über den Zuglautsprecher wurde bekannt
gegeben, dass die Verspätung bereits drei Stunden betrage, auf Grund des
Schlechtwetters sei mit weiteren Verzögerungen zu rechnen. Ein Zug in
Richtung Italien würde in Innsbruck erreicht werden, zwar nicht der
geplante Anschlusszug, der längst weg sei, aber ein anderer Schnellzug in
Richtung Verona, Bologna und Rom. „Italien, ob dort wohl Sonne ist?“
murmelte Zsuzsa.
Gregor wurde wie vom Blitz von einer kühnen Idee getroffen, die ihn gleich
begeisterte. Zum einen war Italien sein Lieblingsland. Zum anderen neigte
er dazu, sich voll in Beziehungen hineinzulassen und sich nicht lang bei
Vorgeplänkeln aufzuhalten.
„Am besten, wir fahren hin und sehen nach“, meinte er und spürte ein
Kribbeln in sich hochkommen.
„Wie? Was?“
„Wir steigen in Innsbruck um und fahren in den Süden, solange, bis die
Sonne da ist. Magst Du?“
Zsuzsa war platt und schaute ihn ungläubig an. „Sicher wäre es schön. Aber
wie soll das gehen? Meine Verletzung, das Gepäck, leere Kassa.“
„Die Kassa lass meine Sorge sein. Ich verdiene recht gut und Du bist noch
Studentin. Ich lade Dich auch auf die erweiterte Zugfahrt ein, fürs
Übernachten finden wir sicher Lösungen und verhungern werden wir auch
nicht. Kannst Du Dir bis mindestens Dienstag Zeit nehmen?“
Zsuzsa überlegte. Hätte sie wirklich nicht gewollt mitzukommen, wäre jetzt
die ideale Gelegenheit für den Rückzug gewesen. Sie sagte aber: „Ja, das
müsste schon gehen, an den slowakischen Universitäten sind noch Ferien.“
„Prima, ich habe die ganze Woche Urlaub. Ich würde vorschlagen, wir lassen
meine Bürosachen und Deinen Skisack in der Gepäckaufbewahrung auf dem
Innsbrucker Bahnhof und machen einen Abstecher mindestens bis Verona. Die
Prothese lassen wir am besten im Sack, weil Du sie in den nächsten Tagen
ohnehin nicht tragen kannst. Bis wir nach Innsbruck zurückkommen, ist Deine
Hüfte vielleicht schon wieder in Ordnung. Vorausgesetzt, Du schaffst es an
Krücken.“
Gregor fühlte, dass er sich bildlich gesprochen weit aus dem Fenster
gebeugt hatte, ziemlich weit sogar. Sein Freund Peter würde sagen, er hänge
wieder einmal gerade noch mit den Zehen am Fensterbrett. Er bekam plötzlich
Angst vor einer Abfuhr. Er fühlte, dass ihn diese auf dem falschen Fuss
erwischen würde und sah sie gebannt an.
Zsuzsa kämpfte mit ihrer Unschlüssigkeit. Auf der einen Seite war die
Verlockung gross, auf der anderen Seite ging alles nun ein wenig schnell.
Aber dann dachte sie an ihre Panik beim Umziehen, fürchtete sich vor den
Folgen einer Absage ihrerseits, gab sich einen Ruck und entschied: „Okay,
fahren wir. Das Gehen an Krücken ist für mich sicher kein Problem.“ Und
nach einem freudigen Blick auf ihn: „Ich bin wirklich froh, dass der
Vorschlag, die Prothese nicht mitzunehmen, von Dir kam. So kann ich sicher
sein, dass es Dich nicht allzu sehr stören wird, Dich mit einer
offensichtlich einbeinigen Frau in der Öffentlichkeit zu zeigen.“
Während er glücklich lächelte, wurde sie nachdenklich. „Ich muss aber
unbedingt meine Tante anrufen, die wartet nämlich auf einen Anruf von mir
heute abends nach meiner Ankunft in Presov.“
„Dort wärest Du heute sowieso nicht hingekommen, Eine solche Verspätung
wartet der Anschlusszug in Wien sicher nicht ab.“
„Ach ja, an das habe ich gar nicht mehr gedacht“, fiel ihr ein.
„Brauchst Du ein Handy? Dann kannst Du jetzt gleich anrufen“, fragte Gregor
und kramte in seiner Jackentasche.
„Ja, meines ist ein Wertkartenhandy für die Slowakei.“
„So etwas hatte ich als Student auch, sag mir bitte die Nummer“, grinste
Gregor. Er tippte die Schweizer Nummer ein, stellte die Verbindung her und
hielt ihr dann den Apparat hin.
„Hallo Tante, hier ist Zsuzsa“, meldete sie sich. „Ja, schlimm, schon drei
Stunden, aber darum geht es jetzt nicht. Ich habe im Zug einen ganz lieben
Österreicher kennen gelernt und wir werden in Innsbruck die Fahrt nach Wien
unterbrechen und in Italien den Frühling suchen. Er hat mich dazu
eingeladen.“ Die aufgeregte Frauenstimme auf der anderen Seite schallte so
laut aus dem Handy, dass Gregor sie noch aus eineinhalb Meter Entfernung
hörte. Dann sagte Zsuzsa nach einigem Zuhören: „Er weiss es, Tante, ich
sitze ohne Prothese neben ihm, die habe ich in den Skisack gepackt, weil
sie mich schrecklich gedrückt hat“ Und nach weiterem Zuhören zu Gregor:
„Sie will Dich kurz sprechen.“
„Ja, hier Gregor Kratochwil“, sagte er. Eine resolute Frauenstimme stellte
sich als Elsa Spörli vor und sagte dann: „Eine tolle Idee, in Italien den
Frühling zu suchen, noch dazu mit meiner lieben Zsuzsa. Sie ist so tapfer“,
und dann zögerte sie, ehe sie fortfuhr: „aber auch sehr verletzlich. Ich
weiss, es ist dumm von mir, so zu reden, aber ich möchte sie nur bitten,
nicht mit ihr zu spielen.“
„Sie können beruhigt sein, gnädige Frau“, antwortete Gregor, „bei soviel
Schönheit und Stärke ist kein Platz für Spiele.“ Kurze Pause, dann bedankte
sie sich überschwänglich und wünschte ihm einen guten Urlaub. Er
verabschiedete sich und sie sagte: „Geben Sie mir bitte noch mal Zsuzsa.“
Nach weiteren Ausführungen von Elsa begann ihre Nichte zu strahlen. Kann
sie mich auf Deinem Handy auch anrufen? „Natürlich“, nickte Gregor und
sagte die Nummer an. Dann beendete Zsuzsa das Gespräch und war sichtlich
zufrieden.
„Die war völlig begeistert von dem, was Du ihr geantwortet hast, Bei der
Strenge Tante Elsas Männern gegenüber eine Seltenheit. Dein Name kommt
übrigens in der Slowakei recht häufig vor.“
„Ja, mein Ururgrossvater war Tscheche, der nach Niederösterreich
einwanderte.“
Dann gab sie ihm einen Kuss. „Auf in den Süden“, rief sie, sprang auf und
hüpfte auf ihrem einen Bein im Abteil herum. Gregor hatte Gelegenheit, nun
wegen ihrer Beweglichkeit verblüfft zu sein, eine Reaktion, die er in den
nächsten Tagen noch öfter haben sollte.
Rasch packten sie ihre Sachen zusammen und er begann, ihre Gepäckstücke zum
Ausgang zu tragen, während sie noch Skikleidung in den Sack mit der
Skiausrüstung schob, um ihre Reisetasche zu entlasten. „Ich bringe mein
Bürozeug und den Skisack in die Gepäckaufbewahrung, Du bleibst am besten
beim anderen Gepäck auf dem Bahnsteig“, schlug er vor.
Sie nickte und fragte ihn dann besorgt: „Hast Du alles, was Du brauchst,
umgepackt?“
„Gute Frage“, sinnierte er. Dann fiel ihm der Photoapparat ein, der in der
Bürotasche steckte und packte ihn hastig in den Koffer.
„Hast Du alles aus dem Sack?“, fragte er dann.
„Ja, ausser wir gehen in Verona Ski fahren“, erwiderte sie amüsiert.
„Na, lieber nicht, sonst holst Du Dir auf der anderen Seite auch einen
riesigen blauen Fleck“, konterte Gregor. Sie puffte ihn mit der Krücke in
die Seite und grinste.
Dann fiel ihr aber doch noch etwas ein. „Ich gehe ja die nächsten Tage die
ganze Zeit an Krücken und habe meine Wechselgriffe für diese noch im
Sack.“ Gregor öffnete den Skisack, der nun bereits auf der Plattform lag,
worauf als erstes die Prothese heraus fiel. Zsuzsa nestelte im Sack und
brachte eine kleine Plastiktüte zum Vorschein, die sie in ihre Tasche
schob, während Gregor vor dem verblüfften Schaffner das „Bein“ wieder
verstaute. Höchste Eisenbahn, denn der ‚Transalpin‘ rumpelte bereits in den
Innsbrucker Bahnhof.
Als der Zug angehalten hatte, kletterte zunächst Gregor hinaus und
schichtete die Gepäckstücke neben eine Sitzbank auf dem Bahnsteig. Dann
half er Zsuzsa aus dem Waggon. Sie setzte sich auf die Bank, während er mit
Bürotasche und Skisack in Richtung Kassenhalle startete. Wegen des
Umsteigens war er unter grossem Zeitdruck, aber glücklicherweise gab es
keine Wartenden vor dem Depot. Die Aufbewahrung war in Minuten erledigt und
Gregor rannte zum Fahrkartenschalter für das Ausland. Auch dort ging es
schnell und dann lief er zurück zum Bahnsteig.
Zsuzsa sass in der Zwischenzeit mit wachsendem Unbehagen auf der Bank. Vor
ihr stand noch immer der Zug nach Wien und aus diversen Abteilen gafften
die Passagiere ungeniert auf die junge einbeinige Frau draussen auf dem
Perron. In einem Abteil unterhielten sie sich offensichtlich kopfschüttelnd
über sie. Es war einer jener Augenblicke, in denen sie sich sehr behindert
fühlte und am liebsten davongelaufen wäre. Aber das ging jetzt nicht: die
Krücken, das Gepäck. Sie atmete auf, als Gregor zurückkam.
„Komm, wir müssen rüber auf den anderen Bahnsteig!“, rief er schon vom
Stiegenaufgang her leicht keuchend. Dann schnappte er das Gepäck und
meinte: „Ich laufe voraus, damit der Zug ja nicht wegfährt.“ Er rannte die
Stiegen hinunter, hinter sich das Geräusch der auf den Boden aufsetzenden
Krücken Zsuzsas. Dann lief er durch die Unterführung und die Stiegen zum
nächsten Bahnsteig wieder hinauf. Der Anschlusszug war schon abfahrbereit,
der Schaffner winkte, rasch einzusteigen. Als Gregor das Gepäck bei der
erstbesten Tür hinein geschoben hatte und sich umdrehte, stand Zsuzsa mit
den Krücken schon hinter ihm. „Das ging aber flott,“ meinte er anerkennend,
als er sie zuerst einsteigen liess und ihr dann folgte. „Warum nicht, ein
Bein habe ich ja noch“, entgegnete sie schnippisch.
Sie machten sich auf die Suche nach einem Wagen erster Klasse. Der fand
sich bald mit vielen leeren Abteilen und sie bezogen ihr neues Quartier.
Gregor war noch immer beeindruckt von Zsuzsas Tempo mit den Krücken. „Mit
der Prothese warst Du viel langsamer“, konstatierte er verwundert. „Sie hat
mir wehgetan, das war eine besondere Situation. Aber es stimmt, mit den
Krücken bin ich schneller. Ich gehe auch gerne ohne Prothese, insbesondere
wenn es nichts ausmacht, dass die Hände gebunden sind.“
„Du benötigst eben einen Träger“, meinte er, was sie wortlos mit einem
Lächeln quittierte.
Sie sassen sich nun im Abteil gegenüber. Zsuzsas Hosenbein hatte sich in
der Hektik selbständig gemacht und hing lose hinunter. Sie begann es erneut
hoch zu falten, als Gregor wieder die kurzen Röcke einfielen. „Ich glaube,
Du brauchst jetzt einen Rock,“ stellte er trocken fest. Zsuzsa hielt
verdutzt inne, liess das Hosenbein wieder fallen und meinte dann: „Du hast
recht, dafür brauche ich allerdings noch einmal meine Tasche vom
Gepäckträger.“
„Gerne, gleich geschehen“, feixte er und hob die Reisetasche herunter.
Während Zsuzsa einen Rock und eine Strumpfhose der Tasche entnahm, ging die
Tür auf und der Schaffner verlangte die Fahrkarten. Staunend betrachtete er
die junge Frau mit dem leeren Hosenbein, als er die Fahrkarten markierte.
Dann ging er wieder, eine gute Reise wünschend.
„Gäbe es Dich nicht, man könnte meinen, die Leute hier haben noch nie eine
einbeinige Frau gesehen“, ätzte Zsuzsa.
„Das ist gut möglich, für mich bist Du auch die erste.“
„Er war ja erträglich, aber die Leute im Transalpin waren mit ihrem
entsetzten gaffen, als ich vor ihnen auf dem Bahnsteig auf Dich wartete,
jenseits von gut und böse,“ schimpfte sie. Und nach einer kurzen Pause
hakte sie nach: „Wirklich die erste?“
„Ich kann mich zumindest nicht erinnern… Männer schon“, antwortete er
nachdenklich..Zsuzsa hüpfte zur Tür und zog die Vorhänge zu. Dann zog sie
sich um. Der Rock war aus weichem Jeansstoff, nicht eng, sondern eher
glockig geschnitten und tatsächlich recht kurz – er endete mehr als eine
Handbreit über dem Knie. Dann kam noch eine schwarze Strumpfhose dazu,
deren rechtes Hosenbein sie in den Bund hineinstopfte. Als sie dabei war,
ihren Stiefel wieder anzuziehen, öffnete sich nochmals die Tür und der
Schaffner stand da mit einem Pack Zeitungen im Arm, die er zum Lesen anbot.
Er betrachtete die verwandelte Zsuzsa genauso verblüfft wie sie ihn.
Sie begriff nun die Öffentlichkeit ihres Umziehens im Abteil. Als er wieder
weg war, meinte sie: „Das war Glück. Ein paar Minuten früher, und er hätte
den falschen Zeitpunkt erwischt… „
Gregor grinste: „Da war ich besser dran.“
„Bei Dir ist das anders, Du bist am Üben.“ Beide lachten. „Wieso beim
Üben?“, fragte er dann.
„Hast Du wirklich noch nie eine einbeinige Frau gesehen?“
Gregor wollte gerade zu einer Beteuerung ansetzen, dann stutzte er. „Doch.
Als ich etwa zehn Jahre alt war, bin ich mit meinen Eltern im Burgenland
auf Urlaub gewesen und dort war ein Mädchen, etwas grösser als ich, dem
fehlte ein Bein ab dem Knie, Es hatte einen Tumor gehabt und eine Glatze
nach den Therapien, aber beim Spielen am Strand des Neusiedlersees war es
immer voll dabei,“ erzählte Gregor. Ich hatte es völlig vergessen,
bekräftigte er dann.
„Das war bei mir auch so“, murmelte sie.
„Was?“ fragte Gregor verwundert. „Das mit dem Vergessen. Als ich klein war,
kam zu uns öfters eine Zigeunerin, eine Roma, wie sie sich selbst nennen,
und verkaufte Wollsachen an meine Mutter. Sie hatte nur ein Bein und ich
war von ihr ganz fasziniert. War sie angekündigt, wartete ich immer schon
bei der Tür, um sie nicht zu versäumen. Ich hatte das ganz verdrängt, bis
es meine Mutter nach dem Unfall wieder erzählte.“
Gregor wurde neugierig. „Hat das dann irgendeine Auswirkung auf Deine neue
Situation gehabt?“, fragte er.
„Ja, aber erst später. Es war zwar das erste Mal, dass ich nach dem Unfall
wieder lachte, nachdem meine Mutter ihre Sc***derung beendet hatte, aber
unmittelbar hat die Erinnerung nicht weiter gewirkt, da war die
Verzweiflung ganz einfach zu gross. Ich war sehr froh gewesen, schöne Beine
zu haben, habe sie auch gerne gezeigt, und nun war nur mehr ein Bein übrig.
Dazu kam, dass mein damaliger Freund erklärte, „so“ könne er mich nicht
mehr lieben und mich verliess. Aber auch andere spielten mir übel mit, wie
später ein Professor an der Universität, der, als er mich nach dem Unfall
das erste Mal wieder sah, meinte, das sei typisch für mich, mir würde
nichts schnell genug gehen. Er könne sich nicht vorstellen, wer nun so eine
Germanistin brauchen werde. Dabei wollte ich einen Prüfungstermin bei ihm
nicht versäumen, als ich aus dem Zug sprang.“
„Arschloch“, entfuhr es Gregor.
Dann wurden sie von Thema abgelenkt, denn in seiner Jackentasche läutete
das Mobiltelefon. Er holte es heraus und sah auf das Display. „Ein Anruf
aus der Slowakei, der ist sicher für Dich“, stellte er fest, drückte auf
den Annahmeknopf und reichte es Zsuzsa hinüber. Deren Gesicht hellte sich
auf, „Hallo Mama, wir haben gerade von Dir gesprochen“, verstand Gregor
noch, dann folgte eine Debatte auf Slowakisch. Zsuzsa sah ihn dabei öfters
lächelnd an, woraus zu schliessen war, dass sich das Gespräch um ihn
drehte. Dann beendete sie das Telefonat, reichte ihm das Handy zurück und
berichtete: „Meine Mutter ist von ihrer Schwester gleich angerufen worden,
und war neugierig wie immer. Sie war sehr angetan, als ich ihr erzählte,
dass die offene Art funktioniert hat und Du nicht davongelaufen bist, als
Dir klar wurde, wie es um mich steht. Schöne Grüsse unbekannterweise.“
Gregor bedankte sich und meinte, dass Zsuzsa eine prima Familie habe, die
sehr zu ihr stehe. „Was ist eigentlich mit Deinem Vater? Den erwähnst Du
nie“, bemerkte er dann.
„Der ist tot“, erzählte sie. „Er hat sich von meiner Mutter getrennt, als
ich zehn war und ist nach Ende der kommunistischen Ära nach Australien
ausgewandert. Vor fünf Jahren kam dann die Nachricht, dass er bei einem
Arbeitsunfall ums Leben gekommen sei. Was genau geschah, weiss ich nicht“,
meinte sie betrübt, war aber gedanklich noch beim Gespräch mit ihrer
Mutter. Zsuzsa hielt viel von ihren Ratschlägen, um die es auch im
Telefonat unter anderem gegangen war.
Dann stand sie auf, griff nach ihren Krücken und setzte sich mit einem
Seufzer neben Gregor, die Gehhilfen wieder zur Seite legend. Der nahm sie
spontan in seine Arme, was sie gerne geschehen liess. Während er sie hielt,
streichelte er sanft ihren Rücken und bemerkte die Fotografie über dem
mittleren Sitz gegenüber. Sie zeigte die Basilika von Palladio in Vicenza,
und da wusste er plötzlich, wo diese Zugfahrt enden sollte.
Zsuzsa dreht ihm dann mit fast geschlossenen Augen ihr Gesicht zu. Zart
drückte er ihr einen Kuss auf die Lippen und blieb förmlich an ihnen
haften. Es wurde ein langer und tiefer Kuss. Als sich nach einiger Zeit
ihre Lippen voneinander lösten, öffnete sie ein wenig die Augen und drückte
dann gleich wieder ihren Mund auf den seinen.
„Wie Samt“, durchfuhr es Gregor und instinktiv tastete er nach ihren Knien.
Er griff zunächst ins Leere, dann spürte er das linke Knie unter seinen
Fingern und begann, ihr Bein von dort aufwärts zu streicheln. Sie beendete
den Kuss, liess sich in die Ecke der Sitzbank gleiten und seine Hand willig
geschehen. Sie dachte an eine Bemerkung ihrer Mutter im Telefonat.
„Hoffentlich mag er Dich nicht nur trotz Deiner Einbeinigkeit“, hatte diese
besorgt festgestellt und als sie sein „Ich liebe Dich, wie Du bist“
zitierte, hinzugefügt: „der Augenblick der Wahrheit kommt erst, wenn ihr
Euch weiter nähert und er Deine amputierte Seite nicht ausgrenzt.“ Nun
steuerten sie auf eine Situation zu, die vielleicht gleich Klarheit
schaffen würde.
Zsuzsa spürte deutlich das Verlangen in ihr, das ihr lange gefehlt hatte,
und sie genoss seine Hand auf ihrem Schenkel. Sie schätzte auch die
Behutsamkeit, mit der er das Bein streichelte.
Für Gregor war hingegen die Behutsamkeit auch Vorsicht, weil er ihr nicht
zu schnell nahe treten wollte, obwohl er sie am liebsten an Ort und Stelle
vernascht hätte. Er koste weiter ihren langen Schenkel, und spürte ihren
Körper zittern, als er ihn weiterhin zärtlich und immer weiter oben mit
seinen Fingern bestrich. Irgendwann stiess er dabei gegen den Stumpf,
erschrak, und zog die Hand wieder zurück, was er sogleich dumm fand. Er
hatte instinktiv reagiert, als würde er ihr dabei Schmerz zufügen, was ja
absurd war. Ausserdem entnahm er ihrem „Mhh“, das sie dabei ausstiess, dass
die Berührung für sie alles andere als unangenehm gewesen war. Also
wanderte seine Hand wieder zum Frosch und begann, ihn vorsichtig zu
streicheln, zuerst auf der Kuppe und dann bis zur Beuge hinauf. „Ein zarter
Schenkel, zugleich ein wirklich kurzer“, dachte er, während sie hörbar zu
atmen begann. Er fasste nun mehr Mut und nahm den Stumpf in seine Hand. Er
registrierte überrascht, wie weich er war. Ein Zittern ging durch den
Frosch und Zsuzsas Atem wurde noch lauter. Für Gregor war es ein neues und
zugleich sehr anregendes Erlebnis. Sanft glitt seine Hand auf die
Innenseite des Frosches, sein Handrücken berührte dabei ihre Scheide. Ihren
Wangen waren gerötet und ihr Frosch begann in seiner Hand zu zucken. Dann
hielt sie plötzlich seine Hand fest: „Später, bitte nicht hier“, flüsterte
sie.
Gregor liess seine Hand auf dem weichen Rest ihres Schenkels liegen und gab
ihr einen langen Kuss. „War das ein Versprechen?“, fragte er dann. Sie sah
ihn lange an, kochte in innigen Gefühlen, lächelte und nickte mehrmals.
Zsuzsa war selig. Als er seine Hand wegziehen wollte, hielt sie diese mit
beiden Händen fest. Sie hatte die Augen geschlossen, kämpfte mit den Tränen
und genoss die warme Hand auf ihrem Frosch.
Dann sassen sie still nebeneinander. Der Zug war schon längst in Italien.
Langsam dämmerte es draussen, es schneite nicht mehr und die Landschaft
zeigte schon ein wenig Grün. Der Zug hielt.
„Wo sind wir?“, fragte Zsuzsa, die Augen öffnend und Gregors Hand
loslassend.
„In Bozen“, antwortete er und dachte wieder an das Ziel der Fahrt, das er
ihr vorschlagen wollte.
„Ich würde mit Dir gerne nach Vicenza fahren, eine wundervolle Stadt“,
meinte er.
„Ich glaube, ich fahr jetzt überall hin, wenn Du es vorschlägst“, flüsterte
sie und kuschelte sich an ihn. „Dauert es bis dahin noch lange?“, fragte
sie dann schläfrig.
„Schon noch eine Weile“, meinte er, sich über die Antwort von Herzen
freuend. Sie sank auf seinen Schoss.
„So ist es schön“, murmelte sie und es dauerte nicht lange, bis sie
einschlief.
Gregor blieb wach und musterte liebevoll seine neue Gefährtin. Er war auf
sie abgefahren, daran bestand kein Zweifel. Sie war sehr attraktiv,
sinnlich, einfühlsam und klug und hatte einen Makel, der ihre Besonderheit
unterstrich und der ihn nun mehr faszinierte, als er jemals gedacht hätte.
Er bewunderte die Art, wie sie selbst mit ihrem Anderssein umzugehen
versuchte und die Anziehungskraft, die dabei spürbar wurde. Er sah sie vor
sich, wie sie auf sein Streicheln vorhin erregt reagiert hatte und dachte
mit Wohlbefinden daran, dass er sie liebend gerne verschlugen hätte. Er
fühlte noch immer den Frosch in seiner Hand und stellte verwundert fest,
dass es ihm nie in den Sinn gekommen wäre, welch positive Gefühle dies in
ihm auslösen würde. „Ich glaube“, sagte er dann leise zu sich selbst, „ich
bin schon verliebt.“
Draussen wurde es immer dunkler und nach dem Halt in Rovereto war es Zeit,
an Verona und ans Umsteigen zu denken. Ihre Fahrkarten reichten bis
dorthin, er würde neue für die kurze Strecke nach Vicenza lösen müssen.
Diesmal werde es wohl keine Hektik geben, denn zwischen Verona und ihrem
Zielort gab es Züge in kurzen Intervallen, auf einen Zug früher oder später
käme es sicher nicht an.
„Hallo Zsuzsa, hallo Liebste, wach auf, wir kommen gleich an.“ Sie
schüttelte den Schlaf ab, sah ihn liebevoll an und freute sich über seine
Anrede.
„Guten Abend, Liebster“, flüsterte sie und gab ihm einen Kuss. Dann stand
sie auf, nahm ihre Krücken und ging zur Toilette. Es dauerte einige Zeit,
bis sie wiederkam. Sie hatte sich frisch gemacht, neu geschminkt, die
langen und kräftigen dunklen Haare nun offen tragend und einige kleine
Zöpfe hinein geflochten.
„Mich haut es um“, rief Gregor, „Du siehst toll aus.“
Sie strahlte ihn mit ihren schönen Augen an, als sie die Krücken
niederlegte und auf ihrem einen Bein balancierend vor ihm stand. In Zügen
schien sie aber dabei überfordert zu sein, denn als sie auf ein anderes
Gleis wechselten, war es durch den Ruck um ihr Gleichgewicht wieder einmal
geschehen. „Uhh“, rief sie lachend mit den Händen rudernd, und liess sich
auf Gregor fallen. Der fing sie auf, zog sie an sich und sie schmusten, bis
der Zug in den Veroneser Hauptbahnhof, der Porta Nuova, rumpelte.
Der Zug hielt und sie stiegen aus. Gregor trug wieder beide Gepäckstücke.
Sie sah ihn mitfühlend an. „Ich habe einen Rucksack in der Tasche. Wenn wir
nächstens wieder unterwegs sind, werde ich ihn aktivieren, um auch etwas
tragen zu können.“
„Ich komme jetzt gut damit zurecht, allerdings werden wir in Vicenza sicher
in einigen Boutiquen hängen bleiben, da können wir dann wahrscheinlich
einen zusätzlichen Sack gut brauchen“, grinste er.
Als sie den Bahnsteig zum Ausgang entlang gingen, begegneten sie dem
italienischen Schaffner, der sie seit dem Brenner begleitet, aber kein
einziges Mal ihre Fahrkarten kontrolliert hatte. Er lächelte und sagte laut
im Vorbeigehen: „Una vera bellezza:“ Gregor bedankte sich freundlich.
„Was hat er gesagt?“, fragte Zsuzsa. Er sagte, dass Du eine wirkliche
Schönheit bist.“
Sie drehte sich um und rief ihm auch ein „grazie“ zu, was er mit Freude zur
Kenntnis nahm.
Vergnügt gingen sie nach diesem Erlebnis in die Bahnhofshalle, kauften
Karten für den Anschlusszug nach Vicenza und nahmen sich Zeit für einen
Kaffee an der Bar. Zsuzsa schob dabei die rechte Krücke unter ihren Frosch
und stützte sich auf ihr ab. Dadurch bekam sie ihre Hände frei und widmete
sich wie Gregor dem Einstandskaffee in Italien. „Ich liebe diesen starken
und cremigen Café, der nicht nur anders geschrieben wird als im Deutschen,
sondern auch viel besser schmeckt“, befand Gregor. Zsuzsa nickte: „Dabei
seid ihr Wiener in Sachen Kaffee doch Experten.“
„Trotzdem“, bekräftigte Gregor, „obwohl wir immerhin wie die Italiener zu
diesem Getränk Café und nicht Kaffe sagen, hier schmeckt er ganz einfach
besser,“
Er betrachtete Zsuzsa, wie sie sich auf die Krücke lehnte. „Ist das nicht
unbequem?“, fragte er dann. „Menschen gewöhnen sich an vieles“, meinte sie
sarkastisch, „wenn man die richtige Stelle findet, an der die Krücke den
Frosch nicht drückt, ist es sogar recht bequem, weil nicht nur die Hand
frei, sondern auch der andere Fuss entlastet wird.“ Dabei wackelte sie
kokett mit dem Frosch, bis er plötzlich den Kontakt zur Krücke verlor und
diese umfiel. Gregor fing sie auf, reichte sie ihr grinsend und sagte;
„Diese Bewegung solltest Du noch üben, Du siehst dabei aufreizend aus.“
„Gerne“, erwiderte sie lachend, „In den nächsten Tagen wird es dazu viele
Gelegenheiten geben, die Prothese macht gerade Ferien in Innsbruck.“
Nach einem Kuss machten sie sich auf den Weg zum Lokalzug, der sie nach
Vicenza bringen sollte. Er war ziemlich überfüllt und sie brauchten einige
Zeit, bis sie freie Plätze fanden. „Ich bin sehr neugierig auf diese
Stadt“, meinte Zsuzsa, als er losfuhr. „Du wirst platt sein“, war sich
Gregor der Sache sicher. Zsuzsa räkelte sich und gähnte. „Wie machen wir es
mit dem Hotel?“, fragte sie. „Ich kenne ein kleines, sehr schönes und auch
preiswertes Albergo in der Stadt, das ‚Due Mori‘.
Um diese Zeit im März sollten wir keine Probleme haben, ein Zimmer zu
kriegen, versicherte Gregor, ehe er verschmitzt fragte: „Bist Du eventuell
bereit, mit mir ein Zimmer zu teilen?“
„Witzbold“, konterte Zsuzsa, „Glaubst Du etwa, ich will allein und zitternd
vor Angst dort die Nächte verbringen?“
„Auch in einem Doppelbett?“ legte Gregor nach.
„Könntest Du verantworten, dass ich bei getrennten Betten zwischen den
beiden hinunterfalle?“
„Sicher nicht, ausserdem würde es sicher wenig Sinn machen, ein Zimmer mit
zwei kleinen Betten zu nehmen und sich dann die ganze Zeit in einem davon
zusammenzudrängen.“
Zsuzsa kuschelte sich an ihn. „Ich freue mich auf das Doppelbett“,
flüsterte sie, „ausserdem habe ich Dir doch etwas versprochen.“
Er küsste sie. „Ich weiss“, sagte er dann, „Und ich freue mich riesig
darauf.“
Sie drückten sich dann aneinander und sassen eine Weile in ihre Gedanken
versunken da.
„Hast Du Hunger?“, fragte Gregor dann.
„Ein bisschen schon“, nickte sie.
„Dann gehen wir abends auch essen.“
Es war gegen acht Uhr abends, als der Zug in Vicenza ankam. Sie nahmen ein
Taxi zum Hotel. Gregor behielt Recht. Das Hotel war fast leer, kaum Gäste.
„In einigen Wochen, zu Ostern, wird das wohl anders sein“, räsonnierte er,
während der Mann an der Rezeption ihre Daten aufnahm.
Das Zimmer war geräumig und mit schönen alten Möbeln eingerichtet. Das Bett
war auffallend gross, ebenso die Wanne im Bad, wie Gregor zufrieden
feststellte. Sie machten sich kurz frisch und dann wegen der
fortgeschrittenen Zeit gleich auf den Weg zum Restaurant, das in der Nähe
des Hotels in der Altstadt lag. In einer engen Gasse ging Gregor hinter
Zsuzsa und bewunderte ihre Figur. Sie spürte dies offenbar und begann beim
Gehen zwischen den Krücken mit dem Hinterteil zu wackeln. Dann blieb sie
stehen und drehte sich grinsend um. „Gut so?“ kicherte sie vergnügt. Sie
war blendender Laune. Seit Stunden schon fühlte sie sich wie auf einer
Wolke. Sie war ganz froh, gleich zugelangt zu haben, als er ihr begegnet
war und sie anzubaggern begonnen hatte. Sie war höchst zufrieden, sich
nicht geziert zu haben, was der Sache sichtlich sehr gut tat.
Dann standen sie auf dem Hauptplatz der Stadt, umrahmt von einem
wunderschönen und einzigartigen Gebäudeensemble, mit dem Rathaus, besser
bekannt als ‚Basilika‘ des berühmten Baumeisters Palladio, als
beherrschendem Mittelpunkt. Zsuzsa stand mit offenem Mund da, auch Gregor
genoss den Anblick schweigend. „Wunderschön“, entfuhr es ihr mit
Bewunderung.
Das Restaurant war gleich ums Eck, ein Lokal mit vielen alten Gerichten aus
der Region. Gregor bestellte Nudeln mit Pilzen und dann als Hauptspeise
Baccala, Stockfisch auf Vicentiner Art. Zsuzsa beobachtete ihn dabei und
tat es dann ihm gleich. Sie war neugierig, was die Küche hier zu bieten
hatte. Gregor nahm es mit grösstem Wohlgefallen zur Kenntnis und dachte
schaudernd an die Essgewohnheiten früherer Freundinnen.
Er machte eine diesbezügliche Bemerkung und sie entgegnete selbstsicher:
„Beim Essen kann man nur zwei Fehler machen. Der erste ist, nur zu essen,
was man schon kennt. Der zweite ist, falsche Schlüsse beim ersten Mal zu
ziehen.“
Gregor war begeistert, aber sie legte noch nach. „Ohne diese Einstellung
hätte ich beispielsweise nie entdeckt, wie gut etwa Kutteln schmecken
können.“
„Du magst Kutteln?“ fragte er ebenso angetan wie ungläubig. Sie nickte
heftig. „Ja, die ersten haben gestunken wie die Pest, schon das Hinriechen
hat gereicht. Die zweiten waren sorgfältig gekocht, ein Genuss.“
Dann wurde sie angesichts seines Hinweises auf frühere Gefährtinnen
nachdenklich und fragte mit besorgter Stimme: „Ich habe Dich noch gar nicht
mit aller Deutlichkeit gefragt: Hast Du wirklich keine fixe Freundin oder
Partnerin?“
„Oh doch, seit heute. Stell Dir vor, ich habe im Zug eine ganz liebe Frau
kennen gelernt.“
Zsuzsa grinste. „Du hast jetzt Glück gehabt, dass mir ein Bein fehlt“,
meinte sie dann, eben wollte ich Dir mit dem rechten auf Dein Schienbein
treten, das geht aber leider nicht. Im Ernst, wie ist es?“
„So wie ich sage, ich war gerade solo und Du?“
„Ich war es auch, schon seit dem Unfall mit einer raren Gelegenheit
dazwischen.“
„Magst Du die so genannten Gelegenheiten?“
„Nein, überhaupt nicht. Ich habe nur im erwähnten Fall erst zu spät
bemerkt, dass es die andere Seite nicht ernst meint.“ Und nach einem
Seufzer fragte sie zurück, „Wie ist es bei Dir, stehst Du darauf?“
„Nein, bei mir funktionieren sie nicht. Entweder ganz oder gar nicht.“
Sichtlich zufrieden über die gegenseitigen Aussagen verzehrten beide ihre
Vorspeise und sassen dann bald vor ihren Tellern mit Baccala. „Das schmeckt
ja alles irre“, meinte Zsuzsa. „Du hast einen tollen Geschmack.“
Gregor freute sich sehr über dieses Kompliment und schenkte Prosecco aus
der Region in die Gläser. „Auf Dich, Zsuzsa“, sagte er als er das Glas hob.
„Auf uns beide“, korrigierte sie und sie sahen sich lange in die Augen,
während sie die Gläser klingen liessen.
„Was machst Du eigentlich in Deinem Beruf?“, fragte Zsuzsa, als die Teller
leergefegt waren und ihre Mägen sich mit dem Stockfisch abzumühen begannen.
„Ich arbeite in einem Forschungsinstitut, das vor allem Aufträge aus der
Wirtschaft zur Analyse der Kompetenzen des Personals und der Ansprüche von
Kundengruppen ausführt. Mein Schwerpunkt ist die Kompetenzanalyse, die
immer wichtiger wird, weil wirtschaftlicher Erfolg in wachsendem Masse vom
Wissen und von Fertigkeiten der Beschäftigten abhängt, und
Neuerungspotentiale, aber auch neue Standorte vermehrt in diese Richtung
untersucht werden, um Erfolgschancen abzuklären. Deshalb war ich auch in
Banska Bystrica, als dort ein österreichisches Unternehmen ein neues Werk
errichten wollte. Neuerdings gehen die Analysen auch stark in Richtung e –
Kompetenzen, also Fähigkeiten, mit Computern und Internet umzugehen. Darum
ging es beispielsweise auch in einem Projekt mit Soziologen aus Presov.“
„Das scheint ja spannend zu sein. Macht Dir diese Arbeit auch Spass?“
„Ja, sicher. Sie bietet viele Gelegenheiten, kreativ zu sein, allerdings
gibt es oft auch Stress durch Termine für Expertisen und Berichte, die dann
nicht nur fertig, sondern auch gut sein müssen.“
Zsuzsa hatte aufmerksam zugehört und meinte dann: “ Ich habe mir nie
vorstellen können, was man mit einem Soziologiestudium nachher anfangen
kann. Jetzt wird mir die Sache klarer. Hast Du zu diesen Themen auch Deine
Diplomarbeit geschrieben?“
„In einem gewissen Sinne schon“, fuhr Gregor mit leichtem Zögern fort und
erzählte dann von seiner Arbeit über die Theorien Goffmans.
Zsuzsa war davon sichtlich beeindruckt. „Das hat ja auch mit mir zu tun.
Kann es sein, dass Du deshalb oft so umwerfend coo
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