Kissed a Girl
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Kissed a Girl

Eine Kurzgeschichte, deren Thema sich – ausnahmsweise – am Titel orientiert

Zu dieser Geschichte habe ich eigentlich nur eine Anmerkung: Es geht um Gefühle und weniger um Körperlichkeiten. Wenn eine Story ohne expliziten Sex für dich also Zeitverschwendung ist, kannst du mit dem Lesen an dieser Stelle aufhören.

Für mich ist es einfach ‚mal was anderes‘. Und außerdem musste ich die Geschichte schreiben, denn sie drängelte sich dazwischen, als ich eigentlich gerade was anderes bearbeiten wollte.

Die Schuld trägt jemand mit dem Pseudonym Boelker, der mich um ein paar Ecken auf die Idee brachte.

—–

Thomas reckte den Arm nach oben und schlagartig herrschte Stille im Klassenraum.
Die hitzige Diskussion zwischen Mädchen und Jungs hatte mit einem Mal ein Ende und alle starrten seine Hand an. Oder genauer gesagt das, was sich darin befand.

Auf dem Bildschirm des Smartphones war das Innere einer Disko zu erkennen. An einer Säule, direkt vor der Kulisse der Körper auf der Tanzfläche, standen zwei Frauen. Sie redeten. Aber es war entweder ein sehr vertrauliches Gespräch oder doch schon fast etwas ganz anderes.
Tina wurde rot, als sie die Szene sah. Sie erkannte die gefilmte Situation natürlich sofort. Immerhin war sie eine der Hauptdarstellerinnen. Und abgesehen davon würde sie diesen Abend bestimmt auch aus anderen Gründen nicht so schnell vergessen.
Was nun leider auch für alle ihre Klassenkameraden galt.

Die versammelten Schüler der Abschluss-Klasse des Gymnasiums starrten wie hypnotisiert auf die Aufzeichnung. Selbst dem größten Trottel und Spätzünder konnte nicht entgehen, wie sich die Finger der beiden Frauen vorsichtig fanden. Den meisten entging allerdings ziemlich wahrscheinlich die tatsächliche Dynamik.
Schreckensstarr musste auch Tina hinsehen und sich selbst eingestehen, dass es wie ein absolut einvernehmlicher und von beiden Seiten forcierter Flirt wirkte. Und irgendwie… war das ja auch nicht wirklich die Unwahrheit.
Vor einem Gericht hätte ihr die Wahrheit jedenfalls nicht den Hals gerettet.

Aus den Lautsprechern des Smartphones war passenderweise ‚I Kissed a Girl‘ von Katy Perry zu hören, als die andere Frau ihren Kopf langsam auf Tina zuneigte. Natürlich war da so. Und es war auch kein Zufall. Damit hatte schließlich die ganze Sache angefangen.
Gebannt sah sie dabei zu, wie die etwas ältere Frau ihr eigenes Alter Ego auf dem Bildschirm offenen Auges küsste. Sie erinnerte sich an ihr rasendes Herz, als das Gesicht näherkam. Und an den Sekundenbruchteil des Zögerns der anderen, kurz bevor es passierte.

Es war der Moment der Wahrheit gewesen. Die letzte Chance, noch einen Rückzieher zu machen. Und Tina hatte sie völlig ungenutzt verstreichen lassen.
Sie hatte der Berührung entgegengefiebert. Und selbst jetzt noch spürte sie das Kribbeln wie von einem kleinen Stromschlag, als es dann passierte. Noch heute stockte ihr der Atem.
Der Kuss hatte so unendlich sanft begonnen und dann in einer fließenden Minute völliger Harmonie stetig an Leidenschaft zugenommen. Bis sie sich nicht nur in den Armen der Frau wiederfand, sondern diese Geste auch rückhaltlos erwiderte.

Die Musik brach ab und Tina schaffte es rechtzeitig aus der Erinnerung zurück in die Gegenwart, um zu sehen, wie sich alle ihr zuwandten. Sie schluckte.
Der vorherrschende Ausdruck war Unglaube. Aber da war auch eine Menge Abscheu und Verachtung. Zu viel, als das sie es ertragen konnte.
Als sie die Flucht ergriff, rief ihr Thomas nach: „Es ist übrigens aus mit uns!“
Falls er noch etwas sagte, ging es im allgemeinen Ausbruch von Diskussionen unter.

Tina rannte. Sie floh vor den anklagenden Blicken. Vor den Fingern, die auf sie zeigen würden.
Weil sie ihren Freund betrogen hatte. So wie er es vor fünf Minuten behauptete und damit einen allgemeinen Streit vom Zaun brach. Einen Streit zwischen den Jungs, die zu ihm hielten und den Mädels, die zu ihr hielten. Obwohl sie alle gar nichts wussten.
Aber sie lief auch vor dem weg, was danach in den Blicken stehen würde. Der Unglaube und die Ablehnung, weil sie eine Frau geküsst hatte. Und zwar nicht aus einer Partylaune heraus, wie jeder gesehen hatte.

Tina wusste, wie das lief. Lesben waren okay, solange sie ganz woanders existierten. Aber als eine von ihnen war das keinesfalls akzeptabel. Die Mädels würden sie von nun an nur noch mit der Kneifzange anfassen. Und die Jungs würden sie verabscheuen.
Die bislang so beliebte Tina war nun dank eines zweiminütigen Videos eine ‚Persona non grata‘. Und wenn die ersten Eltern Wind davon bekamen, würde die Sache nur noch schlimmer werden.
Sie wusste all das, denn keine drei Jahre zuvor hatte sie es hautnah miterlebt. Und selbst dabei mitgeholfen…

*****

Carina plumpste schockiert zurück auf ihren Stuhl, als sie das Video sah. Sie konnte es nicht fassen.
Da waren Tina und eine wildfremde Frau. Und sie küssten sich. Und zwar so, als würden sie es verdammt ernst meinen.

Als Thomas sein Handy senkte, war sofort der Teufel los. Alle diskutierten aufgeregt über das, was sie gerade gesehen hatten. Nur Carina war wie betäubt.
Tina war seit zehn Jahren ihre beste Freundin. Und sie hatte ihr nichts gesagt. Nicht einen Ton.
Das war hart…

Vage bekam sie am Rande mit, wie sich die allgemeine Stimmung gegen Tina verfestigte. Wo die Mädchen zuvor schon aus Solidarität zu Ihresgleichen gehalten hatten, war man sich nun geschlechtsübergreifend einig, dass Tina ihren Freund betrogen hatte.
Wäre sie nicht so schockiert gewesen, hätte die Achtzehnjährige sich vielleicht eingemischt und darauf hingewiesen, dass der ‚arme‘ Thomas ganz sicher einige Seitensprüngen mehr auf seinem Konto hatte. Aber für den Moment war sie einfach zu geplättet.

Als Herr Weigand eintrat und versuchte, das Chaos zu übertönen, wusste Carina sehr genau, dass sie keinesfalls am Unterricht teilnehmen konnte. Sie musste nachdenken. Und…
Ja. Sie musste mit Tina reden. Sofort!
Aber die war, wie sie plötzlich feststellte, verschwunden.

Es war nicht schwierig, hinter dem Rücken des überforderten Lehrers aus der Klasse zu schlüpfen. Kompliziert wurde es erst dann.
Tina war geflohen. Aber wohin?
Ganz bestimmt nicht an einen Ort, an dem irgendwer sie vermuten würde. Sie lief vor den hämischen Stimmen und anklagenden Fingern ihrer Klassenkameraden davon. Also musste sie sich irgendwo verstecken, wo sie niemand vermuten würde.

Carina atmete tief durch. Sie musste systematisch an die Suche herangehen. Auch wenn das eigentlich eher Tinas Stärke war.
‚Denke wie dein Feind‘, erinnerte sie sich an irgendetwas Belangloses aus dem Geschichtsunterricht.
Sie musste denken wie Tina. Und das bedeutete, dass die naheliegendste Möglichkeit für jeden anderen Menschen – nämlich Zuhause – sofort ausschied. Bei Tinas übervorsorglicher Mutter wäre das eine Flucht vom Regen in die Traufe gewesen.

Konzentriert ging sie die sonstigen Plätze durch, die irgendwie Privatsphäre boten. Aber die konnte sie alle abhaken, denn dort lief Tina Gefahr, irgendwem zu begegnen.
Und nach der Enthüllung von gerade, würde Tomas vermutlich nicht zögern, das Video allen Bekannten zu schicken. Also war die Stadt für Tina wie ein Minenfeld.
Außer sie würde sich auf den Weg zu ihrer geheimnisvollen Freundin aus dem Video machen…

Carina keuchte bei dem Stich, den ihr dieser Gedanke versetzte. Die Vorstellung, ihre beste Freundin würde in die Arme einer anderen flüchten war… schrecklich.
Sicherlich war sie selbst auch verletzt, weil sie nicht eingeweiht worden war. Aber trotzdem musste Tina doch wissen, dass ihre allerbeste Freundin sie niemals im Stich…
Das war es!

So überraschend, dass ein vorbeilaufender Lehrer den Stapel Papier auf einem Arm fallen ließ, machte sie einen Satz und stürmte los. Sie blickte nicht einmal zurück, als in mahnendem Ton ihr Name gerufen wurde.
Es gab einen Ort, an den sich niemand aus der Oberprima freiwillig begab. Niemand. Nicht einmal Tina. Nur Carina, die sich dort einfach wohlfühlte.
Wenn ihre Freundin vor allen auf der Flucht war, aber auch nur vage darauf hoffte, von ihrer besten Freundin gefunden zu werden, dann war sie todsicher exakt dort.

Als die Achtzehnjährige ihr Ziel erreichte, musste sie sich allerdings eingestehen, dass die Suche ein wenig schwierig werden mochte.
Das Gymnasium hatte Zugriff auf eine gigantische Bibliothek direkt im Nachbargebäude. Es war zugleich die Stadtbücherei und der Studienort für eine Hochschule und eine Universität. Und eine Art Museum obendrein.
Weitläufig und aufgrund des historischen Gebäudes sehr verwinkelt konnte man sich fast in den Gängen verlaufen.

Carina suchte eine knappe Stunde lang zunehmend mutlos nach ihrer Freundin. Es bestand ja immerhin die Möglichkeit, dass die gar nicht hier war.
Erst dann passierte etwas, was ihr die zündende Idee einbrachte. Und es war nichts anderes als ein klingelndes Handy.

Natürlich waren laute Klingeltöne in der Bibliothek verboten. Aber niemand interessierte sich wirklich dafür, wenn es nicht überhandnahm. Und Tina dachte vermutlich gar nicht groß daran. Falls sie nicht von verächtlichen SMS und Anrufen anderer Schüler bereits so genervt worden war, dass sie ihr Handy abschaltete.
Carina hoffte auf das Beste und drückte, ohne hinzusehen, in ihrer Tasche die Tastenkombination, die sie in- und auswendig kannte.
Und tatsächlich hörte sie in der Ferne – ganz gedämpft – die vertraute Melodie von Carly Rae Jepsens Überraschungshit des Jahres.
Wie ein Bluthund auf der Spur eines Verbrechers schoss sie davon.

*****

Tina war am Ende. Sie konnte nichts anderes mehr tun, als zu heulen.
Wie ein Scherbenhaufen lag ihr Leben vor ihr. Alle Zukunftspläne zerschmettert. Und das alles nur wegen einer Dummheit.
Nein… Wegen eines Dummkopfes!

Tina versuchte, ihren Ausrutscher mit der Frau zu bereuen. Aber das schaffte sie nicht. Dafür war die Erinnerung zu… schön.
Und sie hatte ja auch nicht mehr getan, als ihr sogenannter Freund. Sie hatte nicht mehr getan, als Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Wieso war sie nun auf einmal die Böse?

Dass sie es war, zeigten die verschiedenen SMS, die sie im Verlauf einer Stunde bekommen hatte. Jeder, der ihre Handynummer kannte, schien informiert zu sein. Und jeder musste ihr unbedingt mitteilen, was für eine Schlampe sie doch sei.
Sie hatte sich nur die ersten Nachrichten angesehen. Aber das Handy wollte gar nicht mehr aufhören, Signaltöne von sich zu geben. Bis sie die Benachrichtigung für Textnachrichten abstellte.
Aber dann fand sie sich in der Stille der Bücherei wieder und es gab nichts mehr, was sie ablenken konnte. Es ab nur noch die hässliche Zukunft und sie.

Tina wusste, wie ihre Mutter reagieren würde, wenn sie von der Sache Wind bekam. Jungs waren schon ein Grund für stundenlange Streits mit viel Geschrei. Obwohl sie volljährig war, behandelte ihre Mutter sie in dieser Hinsicht wie ein Kleinkind.
Wenn nun auch noch Frauen dazu kamen, würde sich Tina vermutlich in irgendeinem Internat wiederfinden. Irgendwo, wo es legal war, Töchter bis zu ihrem Lebensende einzusperren. Oder wenigstens, bis sie einundzwanzig waren. Oder so…
Aber wenigstens würde ihr das dann ersparen, mit ihren ehemaligen Freundinnen zusammen zu studieren. Also war es vielleicht sogar ein Lichtblick.

Die Vorstellung, die nächsten Jahre immer zu ahnen, was hinter ihrem Rücken getratscht wurde, war jedenfalls der blanke Horror. Sie konnte es hören, als wäre es schon soweit…
„Das? Ach das ist die Schlampe, die ihren Freund mit einer Lesbe betrogen hat. Ist jetzt selbst lesbisch. Tragisch…“

„Bin ich lesbisch?“, fragte sie sich in ihrer Verzweiflung.
„Keine Ahnung“, antwortete die Stimme von Carina. „Bist du?“

Tina zuckte gehörig zusammen und schaffte es dank des Schreckens sogar, ihre Weinkrämpfe kurz hinter sich zu lassen. Durch den Tränenschleier sah sie ihre beste Freundin – oder ehemals beste Freundin? – den schmalen Gang entlangkommen, der zu ihrem Versteck führte.
Natürlich fand Carina sie. Das hier war eines ihrer Leseverstecke. Hinter einem schweren Bücherregal war der kleine Raum mit nicht mehr als einer Handvoll Quadratmeter vergessen worden. Hier hatte man alle Ruhe, die man sich wünschen konnte.
Aber… Wollte sie nicht auch gefunden werden, indem sie hierher floh?

„Hasst du mich jetzt?“, fragte sie. Es lang schrecklich erbärmlich.
„Bis gerade schon ein kleines bisschen“, antwortete Carine nun viel näher und schniefte. „Aber jetzt kann ich nicht mehr.“
Dann nahm sie ihre Freundin in die Arme und Tina ließ zu, dass ihr die Tränen wieder ausbrachen. Sie klammerte sich voller Verzweiflung an den wahrscheinlich einzigen Menschen, der noch zu ihr stand, und ließ alles heraus.

Eine gute halbe Stunde später hatte sie sich wieder etwas besser im Griff. Noch immer niedergeschlagen, aber nicht mehr akut suizidgefährdet, saß sie Carina gegenüber und stand ihr Rede und Antwort.
Das war das Mindeste, was sie für ihre einzige Freundin tun konnte.

„Also? Warum hast du es mir nicht erzählt?“, kam die naheliegende Frage zuerst.
„Ich wollte…“, antwortete sie kleinlaut. „Ich schwörs!“
„Aber?“
„Naja… Erinnerst du dich, als ich am Sonntag anrief?“
„Klar. Du wolltest frühstücken, aber ich war hundemüde, weil…“
Carina stockte und ihre Kinnlade klappte nach unten. Tina setzte ihren Satz fort.
„Weil die blöde Leckschwester in der Wohnung über euch es die ganze Nacht mit einer Neuen getrieben hat, die sich vor Begeisterung gar nicht mehr eingekriegt hat“, zitierte sie Carinas Worte ziemlich genau.

Carina sah aus, als hätte man ihr gerade den Beweis für außerirdisches Leben auf ihrem Zimmerkaktus vorgelegt.
„D-das warst…?“, stammelte sie schockiert.
Tina blickte zu Boden und fühlte, wie sie knallrot wurde.
„Das war ich…“, flüsterte sie und nickte.
„Oh mein… Gott…“, japste ihre Freundin. „Wie… Wie konnte das passieren?“

Trotz ihrer Niedergeschlagenheit und Verzweiflung – und trotz ihrer grenzenlosen Scham – musste Tina lächeln.
Allein die Erinnerungen an diese Nacht und die Freundschaft von Carina machten ihr Leben noch lebenswert.

„Willst du das wirklich wissen?“, flüsterte sie vorsichtig.
„Worauf du einen lassen kannst!“

*****

Tina war stinksauer. So hatte sie sich ihren Abend in der Disko ganz bestimmt nicht vorgestellt.
Nicht nur, dass Carina auf ihre kleine Schwester raufpassen musste und nicht dabei sein konnte. Nein. Sie musste auch noch ausgerechnet an diesem Abend erfahren, wie wenig ihr Freund Thomas von Treue hielt. Ganz fantastisch!

Wäre es nicht so schmerzhaft gewesen, wäre es schon fast komisch. Er war wirklich so dämlich, in aller Öffentlichkeit vor seinen Freunden damit zu prahlen wie er sie mittlerweile fünf Mal betrogen hatte. In allen Einzelheiten.
Und einige dieser Einzelheiten deckten sich ganz gut mit kleinen Ungereimtheiten, auf die sie zuvor nichts gegeben hatte. Ebenso wie mit ein paar vorsichtigen Verdächtigungen, die Carina hier und da von sich gegeben hatte.

„Dieser Scheißkerl!“, fluchte sie laut und stampfte mit dem Fuß auf.
„Das sind sie alle“, antwortete eine sanfte Frauenstimme von der Seite.

Tina zuckte zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, dass eine Frau sich neben ihr an die Säule lehnte.
Ein wenig misstrauisch hob sie den Kopf weit genug, um aus der Deckung ihres herabhängenden Haars einen Blick zu riskieren. Aber die Heimlichkeit hätte sie sich sparen können, denn die Fremde hatte den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen.
Staunend betrachtete sie die Frau, die offenbar von der Tanzfläche kam.

Sie war eindeutig schon älter. Vielleicht schon Ende zwanzig. Und sie hatte eine Aura der Selbstsicherheit, um die Tina sie sofort beneidete.
Die Fremde hatte schwarze Haare und einen südländischen Touch. Sie trug ein unwahrscheinlich tief dekolletiertes, rückenfreies Kleid in Schwarz und hohe, gleichfarbige Stiefel. Beides ganz eindeutig nicht von der Stange, sondern eher aus direkt aus der Kollektion eines Modedesigners.
Mit einem Anflug von Neid bemerkte Tina, wie unwahrscheinlich gepflegt und verführerisch diese Person auch verschwitzt noch aussah. Ihr Makeup war offensichtlich beste Qualität und zeigte keine Ermüdungserscheinungen. Oder trug sie keines…?
Nein. Diese Augenpartie war unmöglich natürlich.

Perfekte Wimpern. Wunderschön geschwungene Augenbrauen. Fantastische Locken, die selbst offen optimal lagen. Und dazu ein Traumkörper, den sie wie selbstverständlich zur Schau stellte.
Obwohl offensichtlich war, dass sie keine Unterwäsche trug, war an ihr nichts billig. Gäbe es bebilderte Wörterbücher, wäre ihre Abbildung neben dem Begriff ‚Klasse haben‘ gewesen.
So eine Frau würde Thomas ganz sicher nicht betrügen.

„Tapp nicht in diese Falle, Süße“, sagte die Frau und lächelte.
Tina hatte nicht bemerkt, wie sie sich ihr zugewandt hatte. Hatte sie erkannt, wie die Schülerin gestarrt hatte? Wie peinlich!
Moment… Hatte sie etwa laut gedacht?
Erschrocken hob sie den Kopf.

Die Frau lächelte ein wenig, als sie Tinas offensichtlichen Schrecken sah.
„Du hast nicht laut gedacht, falls du dich das fragst“, sagte sie. „Aber du hast uns beide vergleichen, nicht wahr?“
Tina schluckte trocken und nickte.
„Und du hast dir gedacht, dass er sich mit mir keinen Blödsinn erlauben würde.“
Auch wenn es keine Frage war, nickte sie ganz automatisch erneut.
„Siehst du? In diese Falle sollst du nicht tappen. Nicht du bist schuld, sondern er.“

„Aber…“, wollte Tina widersprechen.
Die Frau drehte sich an der Säule und wandte sich ihr zu. Ihr Finger legte sich auf die Lippen der Schülerin.
„Du bist perfekt so, wie du bist, Süße. Wenn er zu dumm ist, zu erkennen, was er an dir hat, ist das sein Pech. Dutzende von Männern und so einige Frauen stehen bereits Schlange, um seinen Platz einzunehmen.“
Der Blick aus den dunklen Augen – die gut als Vorzeigebeispiel für ‚Smokey Eyes‘ geeignet waren – ging Tina durch und durch. Sie verlor völlig den Faden ihrer Argumentation und konnte so oft schlucken, wie sie wollte – ihre Kehle blieb trocken.

„Frauen?“, piepste sie und klang wie ein Kleinkind dabei.
„Natürlich, Süße“, erwiderte die andere. „Für eine Schönheit wie dich würde ich schon über ein paar Leichen gehen.“
„Aber… Ich bin doch gar nicht…“, plapperte Tina völlig irritiert drauf los.
„Lesbisch?“
Sie nickte.
„Na und?“

In diesem Moment legte der DJ das Lied von Katy Perry auf und die Fremde lächelte. Ihr Blick sagte so etwas wie: ‚Siehst du?‘
Wieder musste Tina hart schlucken. Ihre Beine schienen plötzlich aus Wackelpudding zu bestehen. Und in ihrem Bauch kündigte sich entweder gerade ihre Regel an oder ein Bienenschwarm feierte eine Party.
„I kissed a girl just to try it“, trällerte es aus den Boxen. „Hope my boyfriend don’t mind it.“
An dieser Textstelle blieb sie für einen Moment hängen und musste daran denken, was Thomas sich alles herausgenommen hatte.
„Mein Boyfriend kann mich mal“, rutschte es ihr raus.

Die andere Frau lächelte. Aber es war ein anderes Lächeln als zuvor.
Ihre Augen verengten sich ganz leicht und ein Glitzern lag darin. Sie näherte sich, ohne sich zu nähern. Auf einer anderen Bewusstseinsebene war sich Tina vage im Klaren darüber, dass in Wahrheit sie ihren Kopf eine Winzigkeit neigte. Dass sie die Einladung aussprach. So als wäre sie mit einem Jungen unterwegs und… wollte geküsst werden.
Nur dass der Junge eine wunderschöne Frau war, die jeden Mann… oder auch jede Frau haben konnte. Und die sich trotzdem für die kleine Tina entschieden hatte.
Heilige Scheiße fühlte sich das gut an!

Als die Frau sich langsam zu ihr neigte, konnte Tina die Augen nicht offenhalten. Sie wusste nicht, dass sie in diesem Moment bereits gefilmt wurde. Sie wusste nur, dass sie sich nach nichts mehr sehnte, als nach der Berührung der Lippen dieser Fremden.
Tausend Sinneseindrücke bombardierten ihr Gehirn. Der Duft eines teuren Parfüms, auf dessen Namen sie nicht kam. Die Vibrationen der Bässe in ihrem Körper. Das unglaubliche Prickeln ihrer Haut unter den Fingern, die sich mit ihren verschränkten.
Als es passierte, musste sie einfach seufzen. Es fühlte sich so völlig anders an. So ganz, ganz, ganz und gar anders…

*****

Carina hörte gebannt zu und in ihren Ohren rauschte das Blut. Tina hatte sie mit ihrer Sc***derung mitgenommen. Es war, als hätte sie danebengestanden. Als wäre sie selbst in der Situation gewesen.
Ein Teil von ihr krümmte sich leidend wegen der rückhaltlosen Bewunderung, mit der ihre Freundin von der Frau sprach, die sie als ihre Nachbarin nur vom Sehen her kannte. Das ‚Flittchen‘, wie ihre Mutter sie nannte.
War ihre beste Freundin nun verliebt?

„Dieser Kuss war so umwerfend“, beschrieb die verträumt weiter. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie weich es am Anfang war. Kein Drängen. Keine Hast. Nur Genuss.
Und trotzdem kam sie mir immer näher. Küsste mich immer intensiver. Öffnete mit ihrer Zungenspitze meinen Mund und tastete sich dann ganz langsam vor.
Noch nie habe ich jeden Augenblick eines Kusses so intensiv erlebt. Völlig ohne Zeitgefühl. Wie in Watte gepackt und nur noch aus Lippen und Zunge bestehend.“

Tina hielt kurz inne und leckte sich leicht über die Lippen. Sie blickte an die Decke und war völlig in ihren Erinnerungen versunken. So tief, dass sie nicht einmal bemerkte, wie ihre Hand sich in ihren Schoß verirrt hatte.
Es war eine völlig beiläufige Geste. Nichts, was selbst eine Frau sofort hätte deuten können. Aber Carina kannte ihre Freundin seit vielen Jahren. Sie wusste, dass die genau das tat, wenn sie lustvolle Gedanken hatte.
„Hat es dich erregt?“, fragte sie, ohne es wirklich zu wollen. Es war wie ein Zwang.

„Oh, Rina“, seufzte Tina verträumt. „Ich kann dir gar nicht beschreiben, wie sehr. Und wie anders als sonst.
Manchmal beim Fummeln mit Jungs war ich ein wenig heiß. Aber selbst mit Thomas brauchte ich auch nach dem Ausziehen noch eine ganze Weile, bevor ich bereit war.
Aber mit Terry… Bei ihr… Sie hätte… mich vor allen Anwesenden ausziehen können und ich hätte es nicht einmal gemerkt.“

„Liebst du sie?“
Diese Frage riss Tina aus ihrer Schwärmerei. Oder vielleicht war es eher der Tonfall, denn ohne es zu wollen, hatte Carina richtig sauer geklungen.
Ihre Freundin sah sie an. Lange und durchdringend. Sie wirkte sorgenvoll, aber auch irgendwie gefasst.
„Würde es etwas ändern, wenn ich Frauen lieben würde?“

Carina schluckte und wich dem Blick schließlich aus.
Natürlich würde es etwas ändern. Vor allem, wenn ihre Freundin und ihre Nachbarin ein Paar würden. Aber würde sie Tina deswegen ihre Freundschaft entziehen?
„Nein“, sagte sie leise. „Es gefällt mir nicht, aber ich bin deine Freundin. Auch wenn du mit dieser Frau…“

„Ich liebe sie nicht“, unterbrach Tina. „Ich bewundere sie. Ich bin ihr unendlich dankbar. Und ich will nicht ausschließen, dass wir uns noch einmal treffen. Aber wir haben darüber gesprochen. Sehr lange…“
„Wie…?“, krächzte Carina und räusperte sich schnell. „Wie kannst du dir sicher sein?“
„Ich… bin es einfach. Sie hat mir gezeigt, wie großartig das ist, was ich fühlen kann. Aber was mich an ihr anzieht, ist so… körperlich. Fast verstehe ich die Jungs. Es ist so gar nicht emotional.“ Tina lachte auf. „Ich mag sie. Und ich mochte Thomas. Aber Liebe fühle ich nur für…“
Tina verstummte erst, als sie beide schon wussten, was sie sagen wollte.

Carina schluckte schwer. War das ein Geständnis? Oder wäre es nur eine unglückliche Formulierung geworden.
Es war besser, diese Frage nicht zu stellen. Ihrer beider Freundschaft erlebte so schon eine Zerreißprobe.

„Also bist du jetzt lesbisch“, stellte die Achtzehnjährige fest und versuchte, es locker und lustig klingen zu lassen.
„Terry meint, ich sei eher bi.“
„Wie?“
„Naja… An Männern und Frauen interessiert.“
„Ich weiß, was ‚bi‘ bedeutet“, ärgerte sich Carina. „Aber wie kommt sie darauf?“
„Sie hat ein Auge für sowas, sagt sie“, lautete die Antwort. „Und ich glaube, sie hat recht. Ich finde Jungs noch immer anziehend. Nur eben… anders…“
„Obwohl dein Erlebnis mit… einer Frau so viel besser war?“, hakte sie zögerlich nach.
„Terry meint, das läge vermutlich nicht nur daran, dass sie so gut ist, sondern auch daran, das Thomas so schlecht war.“

Obwohl Carina so langsam nichts mehr davon hören wollte, was Terry sagte, meinte und dachte, musste sie doch über diese Worte lachen. Und Tina stimmte ein. Es war befreiend. Und es tat gut.

*****

Weit mehr als stundenlanges Nachdenken am Sonntag und Montag hatte das etwas verkrampfte Gespräch mit ihrer Freundin Tinas Gedanken geordnet. Die Verwirrung hatte sich aufgestaut, bis ihr fast der Schädel geplatzt war und dann war die Katastrophe im Klassenraum über sie hereingebrochen.
Und nun war plötzlich alles wie weggewischt. Dank Carina.
Fast glücklich saß sie neben ihr und lehnte sich an ihre Schulter. Der Rest der Welt sollte ihr halt den Buckel runterrutschen.

„Du bist die beste Freundin, die sich ein Mensch nur wünschen kann“, seufzte sie.
„Du bist auch nicht so schlecht“, bekam sie zur Antwort. „Ich kann nicht fassen, dass du ernsthaft das Flittchen gebumst hast…“
Tina konnte es nicht unterdrücken. Sie prustete los.
„Was?“, empörte sich Carina.
„Ge… Ge… Ge-bumst?“, brachte sie vor Lachen kaum heraus.
Carina wurde ein wenig rot und zog den Kopf etwas zwischen die Schultern.
„Weiß ich doch nicht, wie man das bei Frauen nennt…“, schnaubte sie verlegen.

Tina riss sich zusammen. Sie wollte ihre Freundin nicht auslachen. Auf gar keinen Fall.
„Ich würde es eher Reiben nennen“, meinte sie und fühlte einen kleinen Schauer. „Es war ein ewiges, intensives aneinander Reiben. Mit allen Körperteilen.“
Carina schluckte hörbar.
„Und Lecken spielte eine große Rolle…“
Noch ein lautes Schlucken von ihrer Freundin.
„Stört es dich, wenn ich darüber rede?“

Die Antwort ließ einen Moment auf sich warten. Aber es gab ein Zittern in Carinas Schulter. Sie war angespannt.
„Das nicht“, wich sie aus.
„Aber…?“
„Es ist Terry“, gestand sie dann. „Ich bin… ich mag nicht, wie du…“
„Du bist eifersüchtig!“, platzte es aus Tina heraus und sie richtete sich ganz auf, um ihre Freundin anzusehen.
Die wurde knallrot im Gesicht und wich sofort jedem Blickkontakt aus.
„Du hast Angst, dass sie sich zwischen uns drängt“, fuhr Tina sanfter fort.
Nun nickte Carina leicht.

Vorsichtig legte Tina ihr die Hand an die Wange und hob ihr Gesicht etwas an.
„Ich sagte dir schon, dass ich sie nicht liebe.“
„Aber…“, widersprach ihre Freundin kläglich, „irgendwann wirst du eine andere lieben…“

Unter Tinas blonden Locken fiel ein Mosaik auseinander, als sie in die grünen Augen ihrer Freundin blickte. Das Puzzle ihres bisherigen Lebens löste sich auf und setzte sich neu zusammen. Unverändert, bis auf die Teile, die zu Carina gehörten.
Keine achtundvierzig Stunden zuvor hatte sie vage gehofft, in den Augen von Terry zu finden, was sie nun überdeutlich vor sich sah. Und es war schon immer dagewesen.
Sie hatte es nur nie verstanden. Hatte nie zuvor in den Augen einer Frau danach gesucht.

„Mein Herz ist bereits vergeben“, flüsterte sie mit einem großen Kloß im Hals.
Die Mischung aus wilder Hoffnung und blanker Panik in Carinas Augen brachte ihr Herz zum Rasen. Die unausgesprochene Frage dahinter verdiente nur eine Antwort.
Sich langsam vorbeugend gab sie ihr diese mit ihren Lippen. Ohne Worte.

Es war nicht das erste Mal, dass Tina und Carina sich küssten. Sie hatten miteinander geübt, als sie gerade erst in die Pubertät gekommen waren. Um auf alles vorbereitet zu sein.
Aber diesmal war es anders. Und es war auch anders, als der Kuss in der Disko.
Als Tina sachte die Lippen ihrer besten Freundin berührte, erfüllte sie damit eine lang gehegte Sehnsucht. Und Carina hatte nicht die Kraft, ihr das zu verheimlichen. Sie reagierte mit einer Mischung aus Schluchzen und Wimmern, die mehr als tausend Worte preisgab.

Aus dem sachten Streicheln der Lippen wurde in Gedankenschnelle ein leidenschaftlicher Kuss. Carina reckte sich ihr ohne Zögern entgegen und zeigte nichts von der Scheu, die sie sonst überall an den Tag legte. Sie streifte ihre Zurückhaltung ab, wie eine alte Weste.
Terry mochte eine erfahrene Liebhaberin gewesen sein, aber Carina war eine Liebende. Der Unterschied war gewaltig.

Noch einmal erlebte Tina, wie unterschiedlich Frauen küssten, wenn man sie mit Männern verglich. Die Jungs waren zielstrebig darauf aus, mit ihrer Zunge jeden Widerstand im Keim zu ersticken. Zu erobern. Mit Carina war es völlig anders.
Ihre Zungenspitzen spielten miteinander und sie genossen beide jede einzelne Berührung der Lippen. Aber es gab nicht den Druck, den Kuss so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Immer wieder und wieder vereinigten sie sich und trennten sich kurz.
Atemberaubend und leidenschaftlich, aber ohne Hektik und Eile.

Und so wie der Kuss war auch die Umarmung, in die sie wie von selbst glitten. Nicht besitzergreifend hart und kraftvoll sondern tastend, suchend, spielerisch leicht… Und besitzergreifend. Aber auf sanfte Weise.
Zärtliche Finger glitten über Rücken, Seiten, Po und Beine. Niemals anhaltend. Und niemals drängend. Bis Tina das Gefühl hatte, unter Strom zu stehen und jede einzelne Pore ihrer Haut für sich genommen spüren zu können.

Sie fühlte die Hitze aufsteigen. Nicht im Schoß, sondern im ganzen Körper. Carinas Finger hinterließen Flächenbrände. Und der ging es ebenso. Das zeigte sie ihrer Freundin so offen, wie eine Frau sich einem Jungen gegenüber niemals geben konnte.
Sie bog sich ihren Berührungen entgegen, zitterte, wimmerte und keuchte. Und trotzdem konnte sie sich schließlich losreißen.
„Wenn ich an Samstagnacht denke, sollten wir woanders hingehen“, wisperte sie heiser.

Gemeinsam kicherten sie über Carinas Worte. Und gleichzeitig versicherten sie sich mit Blicken, dass sie die Geräusche jener Nacht zum Verblassen bringen würden.
„Komm“, sagte Tina und nahm die Hand ihrer Freundin. „Ich weiß, wohin wir gehen.“
Gemeinsam standen sie auf, nahmen ihre Sachen und schoben sich aus dem Versteck. Und dabei fing Carina leise an zu singen:
„I kissed a girl. And I liked it!“

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