Junge Liebe
Kapitel 2
Eine Geschichte über die Jugend, die Liebe und erste Male.
© 2012/2013 Coyote/Kojote/Mike Stone
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Irgendwie mag ich aus diesem Teil keine drei Teile machen. Also poste ich ihn als A, B und C von Teil 11…
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XXII.
Renate Bübler spuckte beinahe den Schluck Kaffee wieder aus, den sie gerade genommen hatte, als ihr Enkelsohn Peter mit seiner Freundin in ihrer Küche erschien.
Sie hatte durch die geschlossene Verbindungstür zum hinteren Teil des Hauses gefragt, ob die Kinder vielleicht mit ihr frühstücken wollten, als sie die ersten Geräusche von dort hörte. Es war zwar reichlich spät dafür, aber sie nahm es mittlerweile mit der angemessenen Frühstückszeit auch nicht mehr so genau. Und außerdem war schließlich Urlaubszeit.
Die Rentnerin hatte sich für den Fall gestählt, dass die kleine, freche Blondine oder schlimmstenfalls sogar ihr Peter ein wenig… nun… unangemessen bekleidet erscheinen würden. Diese Sorge erwies sich als unbegründet, wenn man heutige Maßstäbe für angemessene Kleidung ansetzte.
Aber die beiden wohlbekannten Gesichter im Schlepptau des Paares waren eine gehörige Überraschung. Und zwar nicht nur, weil Renate sich absolut sicher war, dass niemand den Hof überquert hatte, seitdem sie wach war.
Patrizia Pfaffer und Kenneth Euler betraten ein wenig zögerlich ihre Küche. Wie Peter und Nadia gingen sie Hand in Hand und wie die beiden sahen auch sie so aus, als wäre ihre Morgentoilette eher kurz ausgefallen.
Tatsächlich sah die ganze Rasselbande so aus, als hätte sie eine wilde Nacht gehabt.
‚Ruhig bleiben‘, ermahnte sie sich still.
Nachdem sie verhindert hatte, dass sich ihr Kaffee über den Tisch verteilte, musterte sie die Kinder aufmerksam. Der betretene Ausdruck zeigte sich auch auf Peters Gesicht, als sie nichts weiter tat und keine Miene verzog. Nur Nadia schien recht unbekümmert.
„Hallo… Oma“, sagte sie mit einem ganz leichten Zögern.
„Guten Morgen“, gab Renate kühl zurück. „Du weißt ja, wo alles ist, Peter. Ich habe nur für uns drei gedeckt.“
„Wir… ähm… Wir könnten… Wir wollen nicht…“, stammelte der schlaksige Kenneth – oder Kenni, wie Peter ihn nannte.
Tatsächlich nannte sogar sie selbst ihn so, wenn sie ihn ansprach. Seine Mutter hatte ihm einen englisch gesprochenen Namen gegeben und dieses ‚th‘ wollte ihr so gar nicht von der Zunge gehen. Und die deutsche Aussprache schien jedermann zu befremden. Also benutzte sie die nur im Geiste – und dort mit einer gewissen Sturheit auch ganz absichtlich, egal wie falsch das angeblich war.
„Wenn du keine ganzen Sätze zustande bringst, hältst du lieber die Klappe und setzt dich, bis du dich dazu imstande fühlst“, belehrte die Rentnerin den besten Freund ihres Enkels.
Ihr barscher Ton dabei war mehr ein Automatismus als Absicht. Sie war ein wenig verblüfft und da fiel es ihr am Leichtesten, sich so zu verhalten. Außerdem brauchte die heutige Jugend harte Führung. Und zwar so lange, bis sie wirklich bereit war, sich davon freizumachen und den Platz unter Erwachsenen aus eigenem Antrieb einzunehmen.
Beinahe musste sie kichern, als der Kerl den Kopf zwischen die Schultern zog und ein wenig eingeschnappt drein blickte. Er war noch nicht ganz so weit, was das Erwachsensein anging.
Ohne ein weiteres Wort nahm er Platz. Und Nadia und die kleine Patrizia taten es ihr gleich, während Peter zwei weitere Gedecke holte.
„Also hat die kleine Teufelin dich nun auch in ihren Bann geschlagen?“, fragte Renate beiläufig die Enkelin ihrer Jugendfreundin Elvira Pfaffer.
Totenstille war die unmittelbare Reaktion. Selbst Peter verharrte mitten in der Bewegung.
Dann prustete Nadia plötzlich und fing an, aus vollem Hals zu lachen. Und Renate musste einstimmen, auch wenn sie es eigentlich nicht wollte.
Verfluchtes Gör!
Es war wirklich schwer, diesem Wirbelwind gegenüber böse Miene zum unanständigen Spiel zu machen. Und das kleine Früchtchen schien das unglücklicherweise zu durchschauen. Sie mochte ein wenig leichtlebig sein, aber ein Kind war sie ganz eindeutig nicht mehr.
Die Stimmung löste sich etwas, obwohl weiterhin drei Gesichter verstört wirkten. Nur Nadia musste an sich halten, um nicht gleich wieder loszulachen.
Dann war es an Peter, Renate völlig zu überraschen.
„Ich hab dich lieb, Oma“, sagte er und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Trotzdem…“
„Trotzdem?“, japste sie. „Nun wird mal nicht frech, Bürschlein. Ich kann dich noch immer übers Knie legen.“
„Wie viele Kochlöffel soll dich das diesmal kosten?“, fragte er völlig gelassen. „Oder hast du wieder einen Schirm zu viel, den du loswerden willst?“
Renate zeigte sich empört, aber sie ahnte bereits, dass neben Nadia auch Peter nicht entging, wie wenig davon echt war. Lieber Himmel wurde es Zeit, dass der Junge aus seinem Schneckenhaus kam. Was ihm noch zum Erwachsensein gefehlt hatte, war eindeutig nur ein wenig Selbstbewusstsein. Und das impfte Nadia ihm offensichtlich gerade ordentlich ein.
„Sie spielt den Drachen“, erklärte Peter derweil den beiden fassungslosen Anderen. „Aber ich glaube, sie meint es gar nicht so.“
„Sabbel nicht, iss!“, bestimmte Renate, bevor dieses Thema zu sehr vertieft wurde.
Während die Rasselbande sich über Wurst, selbstgemachte Marmelade und Brot hermachte, blickte die Rentnerin in die Runde.
Sie konnte das Band zwischen Peter und Nadia sehen. Nur Tage, nachdem die beiden zueinandergefunden hatten, waren sie sich schon so wunderbar nah. Sie konnten keine Minute verstreichen lassen, ohne den anderen wenigstens einmal kurz zu berühren. Und ihre Augen suchten ständig nach ihrem Gegenpart.
Für jemand anderen hätten die kurzen Berührungen der Finger oder die schnellen Seitenblicke vielleicht zufällig gewirkt, aber Renate wusste es besser. Diese beiden gehörten zueinander. So wie es richtig war für Mann und Frau.
Nun… Vielleicht nicht ganz so, wie es richtig war. Sie sah hinüber zu Kenni und Patrizia, die eher jeder für sich aßen.
Was zwischen den beiden vorging, entsprach eher dem üblichen Bild. So wie bei ihnen war es gewissermaßen ‚normal‘ Sie mochten einander. Vielleicht waren sie sogar dabei, sich ineinander zu vergucken. Und in einer anderen Zeit hätten sie gut und gerne in einigen Jahren eine Familie gründen mögen.
Zuneigung, Sympathie und dieses jugendliche Kribbeln im Bauch mochten vorhanden sein oder sich entwickeln können. Aber Liebe auf den ersten Blick war das nicht.
Unbemerkt seufzte Renate ganz leise in sich hinein. Wahre Liebe und das, was am Ende zu einer Ehe führte, waren nicht immer das Gleiche. Schließlich hatte sie selbst auch ihren Ernst geheiratet. Und den Rudolf insgeheim wirklich geliebt.
Vielleicht wäre alles anders gewesen, wenn der Krieg ihn nicht fortgeführt hätte, damit er an irgendeinem unaussprechlichen Ort in Russland den Tod fand. Und erst vierzig Jahre später zufällig in einem Massengrab gefunden wurde, wo er letztlich dank des Rings identifiziert werden konnte, den Renate ihm zum Abschied gegeben hatte.
Nun… Immerhin hatte er keine andere geheiratet, wie sie all die Jahre befürchtet hatte. Welch ein Trost…
Natürlich hatte ihr Ernst niemals erfahren, dass ihr Herz für einen anderen geschlagen hatte. Er hatte den Unterschied nicht gekannt. Niemals erfahren, wie es aussah, wenn sich wahre Liebe in Augen widerspiegelte. Das erlebten nur die wenigsten.
Aber wenn man es einmal erlebt hatte, sah man es auch in den Augen von anderen. So wie Renate es in Nadias und Peters Augen erkennen konnte. Andere Zeiten und Sitten mochten es mittlerweile sein, aber Liebe war und blieb Liebe.
Zufrieden beobachtete die Rentnerin die Kinder beim Essen und freute sich innerlich darüber, dass ihr Junge dieses Glück hatte. Insgeheim beneidete sie die kesse Blondine, die sein Herz erobert hatte, sogar ein wenig. Wie wäre ihr Leben wohl verlaufen, wenn sie es an der Seite von jemandem verbracht hätte, der ihr Herz so berührte? Der… ihre Leidenschaft so zum Kochen brachte?
Na… So oder so hätte sie nicht ihre Tochter bekommen und Peter hätte es nicht gegeben. Also waren die Dinge schon gut so, wie sie waren. Auch wenn es manchmal noch aus der Ferne schmerzte.
Beinahe hätte sie den Arm ausgestreckt und die Hand auf den Unterarm ihres Enkels gelegt. Als kleine Wiedergutmachung dafür, in Gedanken von einem anderen Mann als dem Vater seiner Mutter geschwelgt zu haben.
Aber in dem Moment fing sie einen Blick von der kleinen Patrizia zu Nadia auf. Und verschluckte sich beinahe an dem, was sie im Mund hatte.
Wie in Zeitlupe entfaltete sich vor ihr, was sie einfach nicht fassen konnte.
Die schüchterne und früher leider auch oft ein wenig ungepflegte Enkelin ihrer Jugendfreundin blickte den blonden Wirbelwind mit solcher Sehnsucht und Hingabe an, dass es ihr den Atem raubte. Und Nadia erwiderte diesen Blick… wissend!
Aber das war noch nicht alles. Danach berührte sie Peter und er sah erst sie und dann das andere Mädel an und schien ebenfalls zu wissen, was vor sich ging.
Es war nicht die gleiche Liebe in diesem Blickwechsel. Aber da war so einiges, was unter Freunden mehr als ungehörig sein sollte. Da war eine große Leidenschaft…
Lieber Himmel! Wenn Patrizia ihrem Peter und seiner Nadia zugeneigt war und die drei – oder gar vier, auch wenn Kenneth von diesem Blickwechsel nichts mitzubekommen schien – auch nach diesen Impulsen handelten, dann…
Nadia blickte nun zu ihr und unterbrach diesen Gedanken dadurch. Sie sah ihr in die Augen und schien zu erkennen, was Renate dachte. Schien ihre Überlegungen zu durchschauen. Doch sie zeigte keine Scham, sondern hielt dem Blickkontakt stand.
‚Ich hoffe, du weißt, was du tust‘, dachte Renate und machte keine Anstalten, ihre Sorge zu verbergen.
Und Nadia hielt auch diesem Blick stand und glaubte offenbar tatsächlich zu wissen, was sie tat. Oder bildete sich zumindest ein, damit fertigwerden zu können.
Was womöglich sogar der Fall war…
Schließlich war es Renate, die der stummen Zwiesprache ein Ende setzte, indem sie den Blick abwandte.
Sie würde irgendwelchem unmoralischen Treiben nicht ihren Segen geben. Das konnte sie nicht. Aber was für sie gut und richtig war, mochte nicht für die Kinder gelten. Andere Zeiten, andere Sitten. Aus diesen Dingen würde sie sich heraushalten.
Und das fiel ihr gar nicht so schwer, wie sie sich eingestand, denn die kleine Blondine war ein berechnendes Miststück. Sie würde über Leichen gehen, um sich und ihre Liebe zu Peter – der sich Renate weiterhin todsicher war – zu schützen. So wie es sich für eine Frau auch gehörte.
Vielleicht spielte sie mit der kleinen Patrizia. Aber die sah ihrerseits nicht so aus, als würde ihr das schaden. Sie wirkte hingegen so gepflegt und lebhaft, wie seit ihrer frühesten Kindheit nicht mehr. Sie wirkte richtiggehend glücklich als ein drittes Rad am Fahrrad.
Selbst als Anhängsel war Patrizia bei Nadia und Peter zumindest besser aufgehoben als bei ihren missratenen Brüdern. Und deren trinkender Mutter. Elviras Tochter hatte ihren Saustall eindeutig nicht im Griff.
Pah!
Als hätte Renate das gerade von ihrem Haus behaupten können. Das eine Kind schnitt sich die Arme auf und das andere machte ein Freudenhaus daraus.
Aber immerhin kam bei dem unmoralischen Treiben niemand zu Schaden. Wie es aussah, tat es allen Beteiligten eher gut. Sie schienen alle ihre Freude daran zu haben.
Vielleicht war es wie diese wüste Idee von freier Liebe, die Anfang der Siebziger aus Amerika gekommen war. Es schien nicht gut, dass die Kinder damals plötzlich alle herumhuren wollten, aber am Ende hatte es sich doch ausgewachsen und nichts Schlimmes war passiert.
Alle Sorgen bezüglich ihrer eigenen Tochter hatten sich als unbegründet erwiesen. Auch wenn die ganz eindeutig reges Interesse an dieser sogenannten Bewegung gehabt hatte.
Und dennoch hatte sie Peters Vater getroffen und sich in ihn verliebt. Wäre er nicht gestorben, hätte sie ihn ohne Zweifel geheiratet. Trotz all des Geredes über freie Liebe.
Wem schadete es schon? Niemand wurde gezwungen und niemand wurde verletzt. Nicht wie in Pommern…
Nein. Sie würde mit den Gedanken in der Gegenwart bleiben und nicht noch einmal abirren. Vor allem nicht dorthin. Niemals dorthin!
Verfluchtes Alter. Es machte den Geist schwach…
XXIII.
Schwach im Geist fühlte sich Rene nicht, als er sich mit der Frage auseinandersetzte, wie das nächste Bier wohl am besten aus dem Keller in seine Hand gelangen konnte. Nur ein wenig schwach in den Beinen war ihm zumute. Und deswegen tat er das einzig Richtige in dieser Situation.
„Patze!“, brüllte er lautstark. „Schwing dein Arsch her!“
Dann wandte er sich wieder seinem brandheißen Amiga zu und vergaß beim Spielen schnell, was um ihn herum geschah. Oder nicht geschah, wie er feststellte, als er einen Schluck Bier nehmen wollte und die Flasche leer war.
„Patze! Schwing die Hufe, dumme Kuh! Bring mir Bier!“
Noch immer regte sich nichts im Haus. Und das passte ihm ganz und gar nicht.
„Wenn du gleich noch im Bett liegst, schlag ich dich grün und blau“, motzte er und quälte sich hoch.
Mit wenigen Schritten war er an der Zimmertür seiner Schwester und öffnete sie, um ihr dann einen festen Stoß zu geben. Aber das Knallen, als sie gegen die Wand schlug, schreckte niemanden hoch.
Bevor die Tür mit gehörigem Restschwung wieder zuknallte, sah Rene nur ein leeres Bett. Und viel mehr als das und ein Schrank war ja auch nicht in Patrizias Kabuff untergebracht.
Was zum Teufel?
Andre zu fragen war völlig überflüssig, denn der lag noch im Koma von der Flasche Korn, die er sich am Abend zuvor genehmigt hatte. Also blieb nur die Alte. Und die war sicher in der Küche. Schließlich war sie immer in der Küche.
Missmutig stapfte er Treppe ins Erdgeschoß hinunter. Das Knarzen der Stufen ließ ihn dann aber doch vorsichtiger auftreten. Die Treppe war in keinem guten Zustand. Das ganze Haus war ziemlich baufällig. Und er wollte sich keinesfalls die Knochen brechen, weil wegen seiner Trampelei das Holz nachgab.
Irgendwer sollte sich dringend mal um die notwendigen Arbeiten kümmern. Nur wer?
Unten angekommen verschwand das Thema Bausubstanz so schnell wie jedes andere Thema, das auch nur im entferntesten mit Arbeit zu tun haben mochte, aus seinem Kopf.
„Wo ist Patze?“, schnauzte er barsch, noch bevor er die Küchentür ganz geöffnet hatte.
„Du sollst deine Schwester nicht so nennen“, gab seine Mutter müde und leise zurück.
„Ich nenn die, wie ich will. Wo is‘ die Schlampe?“
„Rene!“, ermahnte seine Mutter nun erheblich lauter und sehr schneidend.
Sie wachte nicht oft aus ihrem Rausch auf, aber wenn sie es tat und diesen Ton anschlug, war Rene besser ein wenig netter. Ob seine Mutter ihm wirklich noch gewachsen war, wusste er nicht genau, aber er erinnerte sich an reichlich Prügel von ihrer Hand in früheren Zeiten. Und das wirkte noch nach.
„Ich mach mir nur Sorgen“, behauptete er in betont normalem Tonfall.
„Ich habe sie heute noch nicht gesehen“, sagte seine Mutter wieder ruhiger. „Wenn sie nicht oben ist, muss sie schon seit heute früh unterwegs sein.“
„Und wo?“, fragte Rene irritiert.
„Warum gehst du nicht los und versuchst, es herauszufinden?“, kam noch einmal leicht schneidend die Antwort. „Schließlich bist du ihr großer Bruder und solltest auf sie aufpassen.“
Rene verkniff sich eine passende Antwort. In ihrem Suff bekam seine Alte nicht mit, was der große Bruder so alles mit der kleinen Schwester trieb. Und das war auch ganz gut so, denn es würde ihr nicht gefallen.
„Äh… Ja klar. Gute Idee“, meinte er stattdessen.
Und dann malte er sich aus, wie er später auf Patze ‚aufpassen‘ würde, während seine Mutter langsam wieder den Kopf hängen ließ und eine ungeöffnete Flasche Apfelkorn auf dem Tisch anstarrte.
Schnell trat er den Rückzug an und baute fest darauf, dass seine Mutter in wenigen Minuten schon vergessen haben würde, was sie gerade besprochen hatten. Sie war schließlich nicht nur eine Säuferin, sondern auch noch irgendwie plemplem. Dämänz oder sowas.
Die Frage, wo seine nichtsnutzige Schwester steckte, wurde dadurch aber nicht beantwortet. Und das würde wohl auch erst geschehen, wenn die nach Hause kam und er die Scheiße aus ihrem dummen Arsch geprügelt hatte.
Wichtiger war, dass er sich so viele Bierflaschen wie möglich auflud, als er notgedrungen selbst in den Keller marschierte. Damit er nicht dauernd wieder los musste.
Und diesmal vergaß er seine Wut auch beim Computerspielen nicht ganz.
„Die dumme Futt wird sowas von bluten, wenn ich sie in die Finger kriege“, murmelte er vor sich hin. „Diesmal ist ihr Arsch fällig. Aber so richtig…“
XXIV.
Tanja starrte an die Zimmerdecke.
Seitdem sie im Krankenhaus aufgewacht war, fühlte sie sich nicht in der Lage, etwas anderes zu tun. Also tat sie auch nichts. Sie redete mit niemandem, antwortete nicht auf Fragen und aß nicht.
Die Ärzte sprachen von Katatonie oder etwas in der Art. Sie hatten veranlasst, dass ihr ein Tropf gelegt wurde. Sie hatten ihr jemanden geschickt, der in sanften Worten Schwachsinn redete und sie hatten ihre Arme fixiert, um ‚Zwischenfälle zu vermeiden‘.
Aber es war ihr egal.
Der Beschluss, ihr Leben zu beenden, hatte sie beinahe befreit.
Es hatte anfangs wehgetan. Und das war richtig gut gewesen. Eine gerechte Strafe. Aber es hatte nachgelassen. Und mit dem Schmerz ging… der Hass.
Als sie im warmen Wasser der Badewanne fühlte, wie sie immer schwächer und müder wurde, stellte sich Frieden in ihrem Inneren ein. All die Besessenheiten, die sie immer angetrieben hatten, verblassten. Alle Menschen verblassten. Alles verblasste.
Mit Ausnahme von Peter. Und Nadia.
Als sie im Sterben lag, hatte sie gewusst, dass die beiden ohne sie glücklich werden konnten. Und das hatte sich… gut angefühlt.
Seit so vielen Jahren brachte sie nur Unglück über ihren Cousin. Und auch gegenüber Nadia hatte sie sich oftmals ganz und gar nicht fair verhalten. Und nun hatten diese beiden wichtigsten – einzigen – Personen in ihrem Leben eine Chance darauf, glücklich zu werden. Nur sie stand ihnen noch im Weg.
Ja. Es war richtig gewesen. Aber… es hatte nicht funktioniert.
Tanja war nicht wütend auf ihre Oma. Ihr tat die alte Frau sogar ein klein wenig leid.
Völlig außer sich war sie gewesen, wenn sie ihre Enkelin besucht hatte. Eindringlich und nachdrücklich hatte sie gefordert, dann gebeten und schließlich gefleht.
Aber Tanja konnte nicht mit ihr reden. Die Zeit zum Reden war vorbei.
Sie wusste genau, dass Peter sie nicht besuchen würde. Nadia würde das verhindern. Sie würde in dem Selbstmordversuch einen verzweifelten Racheakt vermuten und ihn davon abhalten. Und das war gut so.
Aber außer Peter gab es niemanden, mit dem sie reden wollte. Nicht einmal Nadia, auch wenn die sicherlich ebenfalls eine… Entschuldigung verdient hatte.
Schon am Tag nach ihrer Einlieferung hatte Tanja sich entschieden, ihre Entlassung abzuwarten.
Dann würde sie einen Brief schreiben. Für Nadia und Peter. Und danach würde sie sich an einen Ort begeben, an dem niemand sie finden würde, bis es zu spät war.
Diesmal würde sie es richtig machen.
An dem Gefühl des Friedens, das die erfüllte, wenn sie an diese nahe Zukunft dachte, hielt der Rotschopf fest. Nichts anderes durfte in ihre Gedanken dringen, denn sonst würde sie zusammenbrechen.
Sie hatte sich wie der letzte Mensch verhalten. Und die Last dieser Schuld lauerte irgendwo im Hintergrund auf eine Chance, sie zu zerquetschen. Also klammerte sie sich an ihren Plan und blendete alles andere aus.
Bis…
„Die Ärzte sagen, dass du katatonisch bist“, sagte Peter ruhig.
Tanja schluckte. War das ein Traum?
„Sie sagen, du reagierst kaum auf irgendetwas. Vielleicht nimmst du nicht einmal deine Umgebung wahr“, murmelte er wie zu sich selbst. Und dann wieder lauter: „Ist das so, Tanja? Nimmst du mich wahr?“
Gegen ihren Willen schluckte sie hart und Tränen traten in ihre Augenwinkel.
Sie versuchte, es zu verhindern, aber sie fühlte, wie ihr Kinn anfing zu zittern und wie sich ihr Kopf leicht bewegte.
„Also hörst du mich doch“, stellte ihr Cousin fest. „Dann habe ich eine Frage an dich.“
Sie stählte sich. Oder versuchte es zumindest.
Er würde nach dem Grund für ihren Selbstmordversuch fragen. Oder nach ihrem Hass auf ihn. Und sie würde ihm nicht antworten.
Peter musste sicher sein, dass sie nichts weiter als verachtenswert war, damit ihr Tod einen Sinn machte. Er war so mitfühlend und weich. Er musste sie aus seinem Herz verbannen, auch wenn sie darin sowieso niemals den Platz eingenommen hatte, den sie sich wünschte.
Es musste sein!
„Was hat Rene Pfaffer dir angetan?“, fragte er gepresst.
Was? Nein!
Ein Schluchzen rutschte ihr aus der Kehle, als ihr Kopf unwillkürlich herumflog. Fassungslos starrte sie ihn an.
Er durfte davon nichts wissen. Nicht einmal Nadia wusste davon. Niemand wusste…
Kenni!
Die Schuld hatte auf diesen Moment der Schwäche gewartet und brach über sie herein. Schnell konnte sie ihren Cousin nur noch schemenhaft erkennen. Aber sie hatte gesehen, dass er… gereift war. Sicherer als zuvor.
Nicht dank ihr. Soviel stand fest.
So sehr sie es auch versuchte, Tanja konnte dem Schmerz nicht die Stirn bieten. Sie versank in einem Meer aus Scham, Schuld und Selbsthass. Nur mit Mühe konnte sie verhindern, dass sie hemmungslos anfing zu schluchzen.
Dann war da seine Hand an ihrer Wange. Ohne Rücksicht auf die Tränen. Und seine Stimme…
„Warum hast du mir nichts gesagt, Tanja?“
Weinte er?
Hilflos presste sie ihr Gesicht gegen die Berührung und konnte das Schluchzen nicht mehr unterdrücken.
Plötzlich wollte sie ihm so viel sagen. Wollte ihn um Verzeihung bitten. Sich erklären. Ihm alles beichten. Aber es ging nicht.
Ihre Kehle war zugeschnürt und nichts als krampfartiges Schluchzen drang daraus hervor. Die Worte wollten einfach nicht an dem Knoten in ihrem Hals vorbei. Egal wie hart sie es auch versuchte.
Verzweifelt bäumte sie sich gegen die Fesseln an ihren Armen auf, aber die gaben nicht nach.
Hektik brach im Raum aus, als Leute hinzukamen. Sie zerrten Peter von ihr fort und Tanja wollte schreien. Doch sie konnte nicht.
‚Nein! Bleib bei mir!‘, wollte sie ihm zurufen. ‚Verzeih mir!‘
Aber er wurde fortgerissen und Fremde bemühten sich, sie auf das Bett zurückzudrücken.
Tanja kämpfte. Gegen ihren eigenen, verräterischen Körper, der sie daran hinderte, zu sprechen. Und gegen die Menschen, die sie von Peter fernhalten wollen.
Sie kämpfte, bis das dumpfe Gefühl der Betäubung über ihr zusammenschlug und die Kraft sie verließ.
Bis alles um sie herum schwarz wurde.
Bis sie allein war in der Dunkelheit. Allein mit ihrer Schuld…
XXV.
Kenni saß auf einer niedrigen Mauer im Eingangsbereich des Krankenhauses und wartete. Patty stand vor ihm und er hatte seine Arme um sie gelegt. Sie war besorgt und er versuchte, ihr ein wenig Ruhe zu spenden. Aber er wusste auch, dass sie in Gedanken bei Peter war.
Ihre leichte Unruhe war allerdings nichts im Vergleich zu Nadias Nervosität. Die Blondine war nicht einfach angespannt, sie war außer sich. Sie konnte nicht stillstehen, während sie alle warteten.
Kenni wusste in etwa, was ihr vermutlich im Kopf herumging.
Peter war entschlossen gewesen, seiner Cousine allein gegenüberzutreten. Nadia hatte versucht in umzustimmen, aber er war eisern geblieben. Und nun sorgte sich Nadia darüber, was dort drinnen geschehen mochte.
Normalerweise hätte Kenni ihre Sorge sogar geteilt. Tanja hatte immer gewusst, wie sie die Schwäche von Peter ausnutzen konnte. Sie hatte seine Weigerung, ihren seltsamen Hass zu erwidern, gegen ihn verwendet. Und ihn damit in gewisser Weise für viele Jahre daran gehindert, endlich erwachsen zu werden.
Nadia kannte Tanja noch besser als Kenni. Sie wusste vermutlich, wie durchtrieben der Rotschopf sein konnte. Und wie eiskalt sie wirklich war. Aber trotzdem war er eigentlich unbesorgt.
Es war die Art, wie Peter zu Nadia gesagt hatte, dass er dieses Gespräch allein führen musste. Die Art, wie er dem Bitten, Flehen und Drängen widerstanden hatte.
Er war nicht mehr der Kerl, den man vor einer Woche noch mit einem boshaften Kommentar völlig aus der Bahn werfen konnte. Das eine, fehlende Puzzlestück zum Erwachsenwerden, das ihm gefehlt hatte, war ihm von seiner neuen Freundin gegeben worden. Und jetzt war er genau so, wie ihn Kenni eigentlich schon immer gesehen hatte.
Nadia mochte sich Sorgen machen, aber Tanja würde diesen neuen Peter nicht mehr um den Finger wickeln. Und ihn auch nicht verunsichern. Nicht, solange sie selbst da war und auf ihn wartete, um ihn auf jede erdenkliche Weise zu stützen.
Ob es den beiden bewusst war oder nicht – sie waren genau der Stützpfeiler, den der jeweils andere gebraucht zu haben schien. Ganz zu Beginn war es Kenni erschienen, als wäre Nadia eine etwas andere Version von Tanja. Und nun, wo er langsam ein wirklich umfassendes Bild davon hatte, weswegen Tanja so war, wie sie war…
Lange betrachtete er die auf und ab tigernde Blondine und fragte sich, was ihr wohl zugestoßen sein mochte. Irgendwas Schreckliches von der Art, wie Tanja es mit sich herumschleppte, musste auch in ihrer Vergangenheit lauern.
Sie schien immer dominant und selbstsicher, aber Kenni verstand langsam, dass sie sich dabei so sehr auf Peter stützte, wie sie sich zuvor an das geklammert hatte, was ihren Schmerz verursachte. So wie Tanja sich auch an ihr Erlebnis geklammert und an ihrem Hass festgehalten hatte.
Der Unterschied war, dass es nun kein Hass mehr war, der Nadia stützte. Es war Liebe.
Langsam wanderten Kennis Gedanken weiter zu der jungen Frau, die er im Arm hielt. Auch Patty kämpfte mit schrecklichen Erfahrungen. Ihre Hinweise waren es gewesen, die das Mosaik am Ende zusammengefügt hatten.
Sie war nicht wie Tanja und Nadia. Sie war klein gehalten worden. Und nun blühte sie auf. Und zwar nicht dank ihm selbst, wie er sich eingestand.
Vielleicht spielte er gerade mit ihr ein wenig ‚miteinander gehen‘, aber im Grunde war er nur ein unbeteiligter Beobachter. Patty stützte sich auf Nadia und Peter und er war nur zufällig anwesend und durfte daran teilhaben.
Beinahe lächelte er, als ihm bewusst wurde, wie wenig es ihm ausmachte. Er liebte Patty nicht und sie liebte nicht nur einen, sondern gleich zwei andere. Aber solange er mitspielen durfte, würde er nicht Nein sagen.
Die einzige Person, von der er einmal geglaubt hatte, er würde sie lieben, lag dort im Krankenhaus. Und dass es mit ihr nichts werden würde, hatte Kenni schon vor Jahren akzeptiert. Also presste er dem Leben einfach so viel Vergnügen wie möglich ab, wenn er den ‚Hauptpreis‘ schon knicken konnte.
„Vielleicht solltest du dich um sie kümmern“, murmelte er leise in Pattys Ohr. „Sie dreht gleich durch vor Sorge.“
Patty zögerte nicht. Es war, als hätte sie nur auf seine Erlaubnis gewartet. Kaum hatte er es gesagt, war sie schon auf dem Weg, Nadia in den Arm zu nehmen und leise und beruhigend auf sie einzureden.
Es war nicht überraschend, dass es in seinen Augen sogar richtig aussah, wie die beiden Arm in Arm dastanden. Peters zwei Freundinnen, die einander trösteten.
Sollte er nicht eigentlich Neid empfinden bei diesem Anblick?
Die Frage blieb unbeantwortet, denn Peter erschien im Ausgang des Krankenhauses. Sofort musste Kenni schlucken.
Sein Freund ging langsam und bedacht. Aber die fast schon stoische Ruhe, mit der er normalerweise Widrigkeiten begegnete, war wie weggewischt. Er war außer sich. Das konnte Kenni allein schon an der Art sehen, wie er die Schultern hielt. Und wie sich seine Fäuste immer wieder ballten. Und sein Kiefer mahlte.
So hatte Kenni ihn noch niemals zuvor gesehen…
Statt zu den Mädels zu gehen, kam Peter direkt auf ihn selbst zu. Und sein Gesichtsausdruck war so einschüchternd, dass Kenni zum ersten Mal in seinem Leben Furcht vor seinem besten Freund verspürte.
Er sah so aus, als würde er gleich jemandem die Fresse polieren. Was allein schon eine Premiere bei Peter war. Und leider war Kenni der Einzige, der gerade infrage kam…
Nun auch nervös schob er sich von der Mauer, um seinem Kumpel stehend zu begegnen. Dass er ohne Vorrede am Kragen gepackt wurde, kam dennoch überraschend.
„Du sagst mir jetzt, was du weißt“, grollte er mit fest zusammengebissenen Zähnen.
„Peter…“, schnaufte Kenni beschwichtigend.
„Alles, Kenneth!“, unterbrach ihn Peter sofort.
„Okay“, keuchte er. „Du kannst mich loslassen. Ich erzähls dir.“
Peter ließ ihn tatsächlich los. Und stellte ihn dabei gewissermaßen wieder auf die Füße. Vage war er sich bewusst, dass Nadia sich wie eine Raubkatze im Bogen langsam auf die beiden zubewegte. Ihr Blick funkelnd vor… Begeisterung?
Patty hingegen zögerte noch, sich dazu zu gesellen. Und Peter war eindeutig nicht in der Stimmung, ihm lange Zeit zu lassen, sich zu fangen.
Als er anfing zu erzählen, was Tanja ihm einmal anvertraut hatte, als sie zusammen einen Joint durchzogen, lauschten alle aufmerksam.
Im Grunde war es, was allen schon klar war. Aber Peter wollte offenbar die konkrete Bestätigung, die er vermutlich von Tanja nicht bekommen hatte. Und auch wenn Kenni es lieber vermieden hätte, der Überbringer dieser Nachricht zu sein, musste es nun doch endlich einmal gesagt werden.
„So, wie ich es verstanden habe, wollte Tanja dich eifersüchtig machen, indem sie mit einem anderen Sex hatte. Und sie wollte dir eins auswischen, weswegen sie zu jemandem ging, mit dem du so gar nicht kannst. Aber die Sache lief anders, als sie es sich vorgestellt hat…“, erzählte er.
„Ich kann das nicht so wiedergeben, wie sie es gesagt hat. Aber sie war ziemlich fertig, als sie davon gesprochen hat, dass sie es dann doch nicht mehr wollte. Und dabei hat er ihr heftig wehgetan. Viel mehr als sowieso schon, weil es ihr erstes Mal war.
Seitdem, sagte sie, hätte sie Schmerzen beim Sex. Und weil sie es wegen dir getan hat, hat sie dir die Schuld gegeben.“
Nadia schnaubte missbilligend, aber Patty mischte sich ein, bevor die Blondine etwas über die geistige Verwirrung ihrer einstigen Freundin sagen konnte.
„Ich habe einmal gehört, wie Rene Andre davon erzählt hat“, sagte sie.
Schon zuvor hatte sie eröffnet, dass sie wusste, wer Tanja zugestoßen war. Nun stellte sie klar, dass sie auch wusste, was dabei passiert war.
„Er hat nicht einfach Sex mit ihr gehabt“, erklärte sie. „Er hat seinen Frust an ihr ausgelassen und sie dabei auch geschlagen. Und wenn er nicht gelogen hat, dann hat er ihn auch… in ihren… Hintern gesteckt.“
„Das passt“, meinte Nadia nun etwas weniger ablehnend. „Aber trotzdem hat sie sich die Suppe selbst eingebrockt.“
„Egal wie dumm sie sich verhalten haben mag“, knurrte Peter, „so etwas hat niemand verdient.“
„Und eine Behandlung, wie du sie danach von ihr erhalten hast, auch nicht“, protestierte Nadia.
„Das ist nicht der Punkt!“, fuhr Peter auf. „Wie sie sich verhalten hat, ist eine Sache. Aber was ihr zugestoßen ist, steht auf einem anderen Blatt. Niemand hat sowas verdient. Und egal wie scheiße sich jemand verhält, das ist keine rückwirkende Rechtfertigung dafür!“
Nadia zuckte nicht zusammen, als er sich ihr zuwandte und so energisch wie niemals zuvor sprach. Sie sah ihn an und Kenni wollte einen Besen fressen, wenn sie ihn dabei nicht ganz offen anhimmelte. Sogar – oder vielleicht auch gerade – seine Wut schien sie richtig anzumachen.
Und Kenni musste sich eingestehen, dass er das sogar irgendwie verstehen konnte. Das Gefühl der unmittelbaren Bedrohung durch Peter war nämlich vorübergezogen.
Sein Freund war stinksauer, aber diese Wut richtete sich nicht gegen irgendwen, sondern gegen eine ganz bestimmte Person. Und diesem Dreckskerl stand nun eine Lektion ins Haus.
„Mach keine Dummheiten“, sagte Kenni jedoch genau deswegen mahnend.
„Ich mache, was längst jemand hätte tun sollen“, gab Peter zurück.
„Genau deswegen habe ich es dir nicht erzählt, Peter“, appellierte Kenni noch einmal. „Der Dreckskerl ist es nicht wert, für ihn in den Knast zu gehen!“
„Ich werde ihn nicht umbringen, Kenni“, erwiderte Peter erstaunlich beherrscht. „Aber ich werde ihm die längst überfällige Tracht Prügel verpassen…“
Niemand sagte etwas darauf. Nicht einmal Kenni konnte dazu noch Einwände vorbringen, denn im Grunde stimmte er Peter von Herzen zu.
Und außerdem war er beeindruckt. Es gab eine jähzornige Seite an Peter, die manchmal aus der Verzweiflung geboren ausgebrochen war. Bei solchen Wutausbrüchen hatte Peter durchaus auch etwas Mobiliar zerlegt. Und genau diese Art von Reaktion hatte Kenni befürchtet, wenn sein Freund die Wahrheit erfuhr.
Aber Peter war nicht jähzornig, sondern entschlossen. Wütend, aber beherrscht. Dagegen konnte – und wollte – er beim besten Willen nichts sagen.
Und die anderen beiden waren weit davon entfernt, ihm Einhalt gebieten zu wollen. Nadia betrachtete ihren Freund voller Bewunderung und Patty himmelte ihn auf ihre Weise an. Ob es seine Gewaltbereitschaft oder sein Gerechtigkeitssinn oder die überwältigende Präsenz war, die er gerade ausstrahlte, war für Kenni unklar, aber trotzdem verstand er es irgendwie.
Er fühlte sich ja sogar selbst irgendwie gut dabei, einen Kumpel zu haben, der so offensichtlich bereit war, im Falle eines Falles zuzuschlagen. Selbst – oder gerade – in dieser Situation bewies Peter wieder einmal seine Verlässlichkeit.
Wäre er selbst nur ein wenig mehr wie Peter, hätte Tanja vielleicht sogar sein Interesse erwidert. Und es wäre niemals zu alldem gekommen.
Ein Jammer…
XXVI.
Patty schlug das Herz bis in den Hals, als sie Peter zu seinem Wagen folgte.
Vermutlich war er nicht begeistert, aber sie könnte ihm sagen, wie er am besten zu ihrem Bruder gelangen konnte. Und deswegen musste er sie mitnehmen. Egal was er davon hielt.
Und sie musste dabei sein, wenn Rene endlich bekam, was er verdiente. Für das, was er Tanja angetan hatte. Und stellvertretend dadurch auch für all das, was sie durch ihn erlitten hatte.
Als Peter einstieg, blickte er sie an. Kurz machte der entschlossene Zug einer gewissen Sanftheit Platz. Was ihr Herz noch einmal etwas höher hüpfen ließ.
„Du musst nicht mitkommen“, sagte er. Und an ihr vorbei: „Keiner von euch muss das.“
„Glaubst du, wir würden dich allein gehen lassen?“, fragte Nadia von direkt hinter ihr.
Das konnte sie nur nickend bestätigen.
Er diskutierte nicht darüber. Auch wenn es ihm vielleicht nicht gefiel. Und Patty musste sich auf die Lippe beißen, um nicht unpassender weise zu lächeln. Weil sie sich nie zuvor so sehr als Teil einer… Familie gefühlt hatte, wie in den letzten knapp vierundzwanzig Stunden. Und ganz besonders jetzt.
Als sie einstieg, traf ihr Blick den von Nadia und sie sahen sich einen Moment lang an. Auch die unfassbare Blondine war nicht so finster entschlossen und ernst wie Peter. Auch sie hatte ihre eigenen Hintergedanken. Ihre Augen glitzerten eher freudig erregt.
Der Einzige, der angemessen ernst und besorgt aussah, war Kenni. Und auch wenn sie seine Hand ergriff, als sie mit ihm zusammen auf der Rückbank saß, war sie in Gedanken nicht bei ihm.
Es war ganz sicher nicht fair, aber für Patty waren es Peter und Nadia, die sich wie eine Familie anfühlten. Die eine, weil sie sich um sie kümmerte, wie es ihre Mutter nie getan hatte. Und der andere, weil er sich schützend vor sie stellte, wie es der Vater hätte tun sollen, den sie niemals gekannt hatte.
Ihre konkreten Gefühle mochten ein wenig unpassend für eine Familie sein, wenn man nicht das, was Rene immer wieder mit ihr getan hatte, als Maßstab anlegte. Aber der Rest fühlte sich genau so an, wie sie es sich immer vorgestellt hatte.
Die Fahrt verlief schweigend. Jeder hing eigenen Gedanken nach. Bald schon waren sie wieder im Dorf. Und dann schnell am ziemlich baufälligen Haus der Pfaffers.
Sie stiegen alle aus und Patty hielt sich an Nadia, die sich beeilte, Peter zu folgen. Der ging zielstrebig und unaufhaltsam zur Vordertür. Er klingelte oder klopfte nicht. Er probierte, ob die Tür sich öffnen ließ, und trat ein, als sie sich als unverschlossen erwies. Erst dann hielt er inne und drehte sich um.
Noch immer wurde kein Wort gesprochen. Patty, die sich direkt hinter Nadia befand, beantwortete die stumme Frage in seinem Gesicht mit einem Fingerzeig nach oben.
Die Treppe knarzte und ächzte unter dem Gewicht von zwischenzeitlich vier Leuten, als wolle sie gleich zusammenbrechen. Aber sie hielt. Und oben vertiefte sich der abgetakelte und versiffte Eindruck, den das Innere des Hauses machte, um ein Vielfaches.
Die Pfaffers hausten in Dreck und Gestank. Es wäre Patty peinlich gewesen, dass die anderen erlebten, wie sie selbst noch vorgestern gelebt hatte. Aber Nadia ergriff ihre Hand und schenkte ihr einen mitfühlenden Blick, der alles in ein anderes Licht rückte.
Sie hätte sagen können, dass sie so oft auf der Flucht vor ihren Verwandten war, dass sie niemals Zeit zum Aufräumen fand. Aber das war unnötig. Niemand machte ihr einen Vorwurf.
Der Widerwille auf dem Gesicht ihrer Freundin richtete sich nicht gegen Patty, denn die war nicht länger Teil dieser Familie.
Es war nicht nötig, noch einmal einen Hinweis auf den Aufenthaltsort von Rene zu geben. Der verriet sich selbst.
„Patze?“, schnauzte er aus seinem der Zimmer, das an den engen Flur angrenzte.
Patty zuckte mächtig zusammen. Zu oft hatte sie diesen Tonfall gehört und wusste, welchen Ärger er bedeutete. Aber diesmal musste sie sich nicht fürchten. Das zeigte ihr der erneute, feste Druck von Nadias Hand. Aber noch deutlicher zeigte ihr das die Art, wie Peter sich versteifte und ihr ganz kurz einen beruhigend gemeinten Blick zuwarf.
Sein Gesicht war dabei zwar alles andere als sanft. Es war im Gegenteil so hart, das einem angst und bange werden konnte. Aber genau das gab ihr ein Gefühl absoluter Sicherheit.
Sie musste sich keine Sorgen mehr über ihren Bruder machen. Denn noch, bevor der ein zweites Mal schreien konnte, verschwand Peter durch seine Zimmertür.
Aufgrund der Enge konnte Patty nicht sehen, was geschah. Sie konnte an ihm vorbei nichts erkennen. Sein Rücken war einfach zu breit.
Also hörte sie nur, was vor sich ging. Und das war aussagekräftig genug.
„Bübler!“, japste Rene erschrocken.
Dann gab es ein Poltern – von einem umfallenden Stuhl vielleicht – und gleich darauf ein hartes, dumpfes Klatschen gefolgt von einem jammernden Stöhnen.
Peter beugte sich über Rene, der offenbar nun auf dem Boden lag. Darauf folgte noch mehrmals das gleiche Geräusch wie zuvor. Und sie sah die Bewegungen seiner Schulter und Arme.
Es war der Klang einer Faust, die einen Körper traf. Peters Faust und Renes Körper.
Das Jammern steigerte sich zuerst zu zwei kurzen Schreien und wurde dann zu einem Winseln.
„Ich hab dich gewarnt!“, schnauzte Peter laut. „Das gilt auch rückwirkend.“
Rene wimmerte nur und Patty sah einen Teil von ihm. Es schien, als rolle er sich hilflos zusammen.
„Du hast Tanja wehgetan, du Schwein“, grollte Peter und schlug noch mehrmals zu. „Und deiner eigenen Schwester!“
„Was ’n hier los?“, maulte eine Stimme von der Seite.
Patty fuhr zusammen mit Nadia und Kenni wirbelten herum. Die gedrungene Gestalt von Andre trat auf den Flur. Er trug nur Unterhose und Unterhemd – wie üblich schon einige Tage lang die gleichen – sah mächtig verkatert aus und rieb sich die Augen.
Patty schrie vor Schreck. Kenni wollte aktiv werden, stand aber noch halb auf der Treppe. Es war einfach zu wenig Platz.
„Patze?“, wunderte sich Andre. „Euler?“
Dann hörte er Peters Schläge und Renes Wimmern. Und zog die richtigen Schlüsse daraus.
Er war zwei Jahre älter und etwas größer und schwerer als sein ohnehin schon stabiler Bruder. Und im Gegensatz zu Rene war er ein richtiger Schlägertyp. Auch dann, wenn sein Gegenüber nicht kleiner und schwächer war als er. Nur Pierre war noch schlimmer.
Wäre Peter auf dem Flur gewesen, hätte sich Patty dennoch keine Sorgen gemacht. Der Kraft und Entschlossenheit ihres… Freundes konnte vermutlich wirklich nur Pierre überhaupt etwas entgegensetzen. Nur war Peter nicht auf dem Flur…
Andre stapfte, ohne zu zögern auf Nadia zu, die ihm am Nächsten stand. Und Patty schrie auf, denn sie wusste, dass ihr Bruder keinen Unterschied zwischen Mann und Frau machen würde.
Schon holte er aus, um Nadia mit der Faust aus dem Weg zu wischen. Sein Blick war direkt auf seine Schwester fixiert und seine Wut schien grenzenlos. Schon sah sie sich von ihm verprügelt werden, wie er ein paar Mal getan hatte, wenn sie seiner Meinung nach so richtig Mist gebaut hatte.
Dann beobachtete sie allerdings mit weit aufgerissenen Augen, wie er plötzlich stoppte und in die Knie ging. Seine eigenen Augen so groß, dass sie fast aus den Höhlen traten.
Nadia zog ihr Bein zurück, mit dem sie Andre gezielt und kraftvoll zwischen die Beine getreten hatte. Aber sie beließ es nicht dabei, sondern holte nur Schwung, um ihm mit voller Wucht unters Kinn zu treten.
Das Krachen dieses Treffers klang ohrenbetäubend laut und… unglaublich befriedigend. Ebenso wie es der Anblick seines nach hinten kippenden Körpers war.
All das hatte nur Sekunden gedauert. Peter streckte gerade seinen Kopf aus Renes Zimmer, als Andre nach hinten kippte.
„Alles okay?“, fragte er besorgt.
„Alles bestens“, gab Nadia grinsend zurück.
Er nickte und drehte sich wieder um.
Statt sich noch einmal über Rene zu beugen, der eindeutig wie ein Häufchen Elend auf dem Boden lag, sprach er ihn nur an: „Zwing mich nicht, dich noch einmal zu besuchen, Arschloch.“
Danach wandte er sich zu Patty und fragte sie: „Willst du ihm auch noch etwas sagen?“
Sie nickte und blickte an ihm vorbei auf den Menschen, den sie bislang immer so sehr gefürchtet hatte. Plötzlich sah er gar nicht mehr so bedrohlich aus.
„Sein Schwanz ist riesig“, zischte sie. „Und er darf ihn auch in meinen Arsch stecken!“
Dann spuckte sie auf die Gestalt und fuhr herum.
Als die anderen drei sie verblüfft anstarrten, wurde sie rot. Aber bevor sie sagen konnte, dass sie ihrem Bruder nur eins auswischen wollte, legte Nadia einen Finger auf ihre Lippen und gab ihr dann einen Kuss darauf. Und ihre Augen funkelten vergnügt dabei.
„Brauchst du noch etwas von hier?“, fragte die Blondine danach leise. „Ich bin nämlich nicht sicher, ob wir dich jemals wieder herlassen…“
Nach einem langen Moment, in dem Patty versuchte, ihre plötzlich sehr zittrigen Glieder unter Kontrolle zu bekommen, nickte sie leicht.
Rasch holte sie die wenigen Dinge, die ihr am Herzen lagen, aus ihrem Zimmer. Aber als sie anfangen wollte, Kleidung zusammenzupacken, hinderte Nadia sie daran.
„Die wirst du nicht mehr brauchen“, sagte sie mit einem Blick auf all die abgelegten Sachen von Pattys Brüdern. „Ich leihe dir was von meinen und Peters Sachen, bis wir uns darum kümmern können, dich neu einzukleiden.“
Natürlich hätte sie dem eigentlich widersprechen sollen. Aber alles an diesen Klamotten widerte sie plötzlich an. Und sie fühlte, dass Nadia es nicht einfach so dahin sagte.
Sie wollte etwas dazu sagen, aber wieder legte Nadia ihr den Finger auf den Mund und sagte leise: „Später.“
Schnell schnappte sie sich die Kleinigkeiten, die ihr wichtig waren und sie verließen Pattys ‚Elternhaus‘.
Für immer, hoffte sie.
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