Der Junge von nebenan – Auch das war mein Leben. Ich war in meinem Leben nicht immer auf Frauen fixiert. Auch mit Männern hatte ich so meinen Spass. Mal mehr, mal weniger.
»Stefan hat den makellosen Körper eines Achtzehnjährigen, schlank und mit Muskeln, die einfach von Natur aus da zu sein scheinen und nicht mühsam in einem Fitnessstudio antrainiert wurden.« Mein Bruder unternimmt immer einmal im Jahr eine größere Urlaubsreise, im August, drei Wochen, und ich hüte in der Zeit sein Haus und seine Katze. Ich fahre jeden Abend nach der Arbeit bei ihm vorbei, leere den Briefkasten, gieße die Blumen und die Beete im Garten, füttere die Katze und mache das Katzenklo sauber. So auch diesen Freitag. Normalerweise ist das eine ziemlich langweilige Angelegenheit und ich muss mich zwingen, die halbe Stunde bei ihm auszuharren, um die Katze zu streicheln und mit ihr zu spielen – wie ich es meinem Bruder versprochen habe. Doch in diesem Jahr hat mein Bruder neue Nachbarn bekommen. Sie, oder vielmehr ihre Kinder, sind nicht zu überhören – anscheinend veranstalten sie gerade eine Grillparty. Ich sitze auf der Terrasse und genieße den perfekten Sommerabend. In meiner Cola zerspringen knackend die Eiswürfel, die mein Bruder im Gegensatz zu mir immer vorrätig hat. Mit meinen Zehen kraule ich Sissi, die sich laut schnurrend auf den kühlen Steinfliesen rekelt. Durch die hohe Hecke kann ich die Nachbarn und ihre Partygäste nicht sehen, aber hören. Ohne angestrengt lauschen zu müssen, bekomme ich ziemlich schnell heraus, dass sie in der zwölften Klasse sind:
Sie reden hauptsächlich darüber, wie sie im kommenden Jahr das Abitur schaffen sollen und was sie mit der großen Freiheit danach anfangen wollen. Zwei von ihnen machen gerade den Führerschein, einer hat ihn seit Kurzem. Er ist gleichzeitig für das Grillen zuständig, also wahrscheinlich der Sohn des Hauses, die anderen beiden sind seine Freunde. Es dauert nicht viel länger als die halbe Stunde, die ich meinem Bruder versprochen habe, bis sie auf Mädchen und Sex zu sprechen kommen. Einer der drei hat offensichtlich eine feste Freundin, mit der es »gut läuft«. Bei den anderen beiden scheint es mir fraglich, ob sie überhaupt schon einmal Sex hatten. Bin ich doch nicht die Einzige, die ihre Jugend statt mit wilden Partys, der großen Liebe und heißen Sexerlebnissen mit Gedanken an die Zukunft zugebracht hat? Ist das wilde Teenieleben doch nur ein Mythos? Ich unterdrücke einen Seufzer. Wo ist sie hin, meine Schulzeit?
Anstatt ins Ausland zu reisen, wie es der Nachbar anscheinend vorhat, habe ich eine Stelle in einer Werbeagentur für Veranstaltungen angenommen, für die ich jetzt arbeite. Etwas nicht so schöne Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht machte ich mit dem Assistenten meines Chefs, ich war 16, er zehn Jahre älter. Heute ist mir klar, dass er damals nicht jeden Tag bis um neun im Büro blieb, um unseren Chef zu beeindrucken und seine Chancen auf eine Festanstellung zu erhöhen, sondern weil er mich ins Bett bekommen wollte – oder vielmehr auf seinen Schreibtisch, denn dort liebten wir uns das erste Mal. Ich war damals wohl ziemlich naiv, obwohl ich fest davon überzeugt war, sehr viel weniger naiv als meine Kolleginnen zu sein, die stundenlang in der Cafeteria saßen, über philosophische Themen diskutierten und meiner Meinung nach keine Ahnung hatten, wie es in der sogenannten freien Wirtschaft zugeht. Im Gegensatz zu Clemens. Bevor er bei der Werbeagentur angefangen hatte, war er in der Marketingabteilung eines Autohauses. Ich bewunderte ihn dafür. Deswegen hatte ich auch nichts dagegen, als sein Knie unter dem Schreibtisch plötzlich meines berührte und er sich nicht dafür entschuldigte. Er sah mir nur in die Augen und antwortete nicht mehr auf meine Vorschläge, wie wir die Pressemitteilung noch wirksamer formulieren konnten. Ich stand auf, etwas abrupt vielleicht, weil ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte, und weil ich, obwohl ich gern mit Clemens schlafen wollte, gleichzeitig ein schlechtes Gewissen hatte, unsere Arbeitszeit so zu missbrauchen. Ich ging schnell ans Regal und zog einen Ordner heraus, ohne zu wissen, was er enthielt. Ich sollte es auch nie herausfinden, denn obwohl ich meine Augen auf die Papiere heftete, waren alle meine Sinne auf Clemens gerichtet. Er stand langsam auf und kam mir hinterher, nahm mir den Ordner sanft aus der Hand, drehte mich zu sich und küsste mich. Ich glaube, ich schloss die Augen. Dann hob er mich auf seinen Schreibtisch, schob die Unterlagen zur Seite, ohne sie hinunterzuwerfen und steckte mir eine Hand zwischen die Beine und zog mit der anderen meinen Rock hoch. Ich hatte nur ein Höschen an und es bereitete ihm keine Mühe, es mir auszuziehen, während ich auf der Schreibtischkante balancierte, also legte ich meinen Oberkörper auf seinem Schreibtisch ab. Mindestens drei Kugelschreiber, ein Tacker und ein Radiergummi bohrten sich in meinen Rücken, aber das störte mich nicht, es erschien mir alles sehr passend. Clemens legte meine Beine auf seine Schultern, öffnete seine Hose und rieb sich eine Weile an mir, bevor er sich ein Kondom überstreifte, das er anscheinend in seiner Schreibtischschublade aufbewahrt hatte. Er drang schnell in mich ein und kam genauso schnell und leise – was mir sehr recht war, denn schließlich wurden wir für die Zeit im Büro bezahlt. Außerdem wusste ich nicht, ob sich nicht trotz der späten Stunde irgendwo in dem Gebäude noch andere Mitarbeiter aufhielten, wenn auch keine auf unserem Stockwerk. Für mich war es selbstverständlich, dass wir im Büro blieben und nicht zu ihm oder zu mir nach Hause fuhren, um miteinander zu schlafen. Meine kleine, eher schäbige Wohnung war mir damals sowieso peinlich. Auch nach dem Sex fuhren wir nicht nach Hause, stattdessen bastelten wir noch mindestens eine Stunde an dem Text für die Pressemitteilung herum. Ich gebe zu, es war nicht das erste Mal, dass ich überhaupt Sex hatte. Ich bin blond, ich passte perfekt zu seinem Plan. Abends, kurz vor Feierabend wenn alle schon gegangen sind, schnell auf dem Schreibtisch einen Fick. Doch als mein Abschluss und die Aussicht auf eine Festanstellung näher rückten, wurde ich unzufrieden. Ich weiß nicht genau warum. Der Sex mit Clemens war okay, aber irgendwann fiel mir auf, dass ich dabei mit den Gedanken meist ganz woanders war. Die ersten paar Male im Büro waren noch aufregend, die ersten paar Male bei ihm zu Hause auch. Doch dann wurde ihm die Arbeit wichtiger, und mir etwas anderes. Clemens gab sich kaum noch Mühe, dass auch ich im Bett auf meine Kosten kam, aber das war gar nicht der Grund, warum ich unruhig wurde. Ich wurde unruhig, weil er immer öfter über unsere Zukunft redete: wie wir wohnen würden, wohin wir in den Urlaub fahren würden, welches Auto wir kaufen würden. Mich überkam Beklemmung bei dem Gedanken, dass die restlichen fünfzig oder sechzig Jahre unseres Lebens genauso verlaufen würden wie die zwei, die ich bereits mit ihm zusammen war. Das alles war zu wenig für ein Leben. Zu Clemens sagte ich nichts davon, und es schien ihm nicht aufzufallen, dass ich schwieg, wenn er über seine Pläne für unsere Zukunft sprach. Während der Arbeit war es immer so, dass er bestimmte, was wir machten, weil er mehr Erfahrung und mehr Erfolge vorzuweisen hatte. Ich sagte stets nur dann etwas, wenn ich anderer Meinung war. Und inzwischen war ich anderer Meinung, was unsere Zukunft betraf. Ich wusste damals nicht, was meine Meinung war. Ich wusste nur, dass ich nicht Ja sagen konnte, als er mir einen Heiratsantrag machte. Ich konnte ihm nicht erklären warum, ich schüttelte nur den Kopf und verließ das Restaurant. Zuerst dachte er, ich hätte etwas mit jemand anderem. Ein paar Wochen später machten wir Schluss, effizient und ohne viel Gefühlsaufwand, denn keiner von uns wollte unser Arbeitsverhältnis gefährden. Erst jetzt, als ich auf der Terrasse meines Bruders sitze und der Party nebenan zuhöre, kann ich Clemens sagen, was mit mir nicht stimmte: Vor lauter Vorbereitung auf die Arbeitswelt habe ich meine Jugend verpasst. Es kann nicht sein, dass man seinen ersten Freund heiratet und sein ganzes Leben nur mit einem Mann Sex hat, oder? Dass man nie eine Nacht durchgemacht hat und noch nie betrunken war? Nie Fan einer Rockband, nie auf einem Konzert? Als mir klar wird, was mir fehlt, was ich verpasst habe, könnte ich gleichzeitig weinen und lachen. Doch ich tue keines von beidem. Stattdessen stehe ich auf und trinke mit einem Zug meine Cola aus. Ich sehe an mir herunter. Für eine Party unter Jugendlichen bin ich leider nicht gekleidet: Mein Rock ist braun kariert, die Bluse hellblau. Als Erstes ziehe ich mein Höschen aus. Dann gehe ich in mein Zimmer und suche meine Reisetasche. Einen gepackten Koffer habe ich immer dabei, man weiß ja nie! . Ich finde einen Jeansrock, der sehr kurz ist, nicht mal bis zu den Knien reicht, dazu ein rotes T-Shirt mit tiefem Ausschnitt. Unterwäsche? Brauche ich nicht. Eine Jacke brauche ich bei diesen Temperaturen auch nicht. Der Junge, der mir die Tür öffnet, ist derjenige, der für den Grill zuständig ist, ich erkenne es an seiner Stimme. Er ist also tatsächlich der Sprössling des Hauses. Schlagartig wird mir bewusst, dass ich mir noch gar keine Begründung für meinen Besuch ausgedacht habe. »Hi. Ich suche die Katze von meinem Bruder«, ist das Erste, das mir einfällt. »Er wohnt nebenan und ich passe auf das Haus und die Katze auf. Er ist im Urlaub. Ist sie vielleicht bei euch im Garten?« »Keine Ahnung.« »Kann ich mal nachsehen?« »Ja, natürlich. Bitte kommen Sie rein.« »Du kannst ›Du‹ zu mir sagen.« Ich strecke ihm meine Hand entgegen und er schüttelt sie mit einem leicht irritierten Gesichtsausdruck. »Stephanie.« »Björn.« Björn führt mich durch das Haus auf die Terrasse und in den Garten, wo die anderen beiden warten. Mir wird sofort klar, dass nur einer von ihnen infrage kommt: Stefan. Er steht zwar auch auf, um mich zu begrüßen (er ist der Größte von den dreien), aber im Gegensatz zu den beiden anderen beteiligt er sich nicht an der vermeintlichen Suche nach Sissi. Ich spüre, dass er mir meine Geschichte nicht abnimmt. Er wiederum scheint zu spüren, dass ich wegen etwas anderem hier bin. Nach der erfolglosen Suche – zum Glück ist Sissi schlecht genug erzogen, um nicht auf meine Rufe zu reagieren – ist er derjenige, der mich fragt, ob ich etwas trinken will. »Gerne. Am liebsten ein Bier.« Bier trinken ist auch eines der vielen Dinge, die sich in der Geschäftswelt für Frauen nicht gehören. Stefan öffnet eine Flasche für mich und sieht mir etwas länger in die Augen als nötig, als er sie mir gibt. »Oder willst du ein Glas?« »Nein, ist in Ordnung so.« Björn und Michael begeben sich zum Grill. Ich sehe mich im Garten um. »Erwartet ihr noch mehr Gäste? Was feiert ihr eigentlich?« »Nur den Ferienanfang.« Inzwischen bin ich mir ziemlich sicher, dass Michael zu der Stimme mit der festen Freundin gehört. Stefan fragt mich, wo ich wohne. »Nicht weit von hier.« Ich gebe ihm die Straße und die Hausnummer. Als ich mein Bier ausgetrunken habe, ist die Sonne schon fast untergegangen. Ich weiß nicht, ob das der Grund ist, aus dem ich eine Gänsehaut bekomme, als ich mich von Stefan verabschiede. Jedenfalls bietet er mir seine Lederjacke an. »Ich kann sie morgen bei dir abholen«, sagt er und sieht mir dabei wieder mit diesem unheimlich direkten Blick in die Augen. Sollte es tatsächlich so einfach sein? Es heißt ja, dass Jungs in dem Alter so viel Sex wie möglich haben wollen, egal wie, egal wo, egal mit wem, solange sie einigermaßen gut aussieht. Oder funktioniert Gedankenübertragung doch? Ich nehme die Jacke dankend an, sage ihm noch einmal die Straße und die Hausnummer und dass ich morgen den ganzen Tag daheim sein werde. Dann gehe ich. Zu Hause dusche ich, öffne alle Fenster, schalte das Licht aus und lege mich nackt in mein Bett. Ich habe noch nichts zu Abend gegessen, habe aber trotzdem keinen Hunger. Bin ich verliebt? Ich habe auch keine Lust fernzusehen. Ich schließe die Augen und denke an Stefan, stelle ihn mir nackt vor. Keine fünf Minuten später, so kommt es mir vor, klingelt es an meiner Wohnungstür. Ich sehe auf die Uhr. In Wirklichkeit sind drei Stunden vergangen. Es kann nur er sein. Ich stehe auf, schlüpfe in seine Jacke und öffne ihm die Tür. Er sagt: »Hi«. Ich sage gar nichts. Ziehe ihn ins Haus, schließe die Tür hinter ihm und knöpfe sein Hemd auf. »Hast du die Katze gefunden?«, fragt er. Ich küsse ihn, ziehe ihm das Hemd aus und schiebe meine Hand in seine Jeans. Seine Haare riechen ein bisschen nach dem Rauch des Grillfeuers, aber noch mehr nach ihm. Ich schiebe ihn rückwärts zu meinem Bett, sodass er fast stolpert, und drücke ihn in die Kissen. Er versucht nicht, sich wieder aufzurichten, also ziehe ich ihm die Jeans und seine Unterhose aus. Clemens musste sich manchmal sehr konzentrieren, bis er einen Ständer bekam, aber bei Stefan ist es anders. Ich übernehme es, ihm das Kondom überzuziehen, denn ich bin sicher, dass ich darin mehr Übung habe als er. Erst als ich auf ihm sitze, ziehe ich seine Lederjacke aus. Ich glaube nicht, dass ich bei Clemens einmal annähernd so feucht war. Stefan hat den makellosen Körper eines Achtzehnjährigen, schlank und mit Muskeln, die einfach von Natur aus da zu sein scheinen und nicht mühsam in einem Fitnessstudio antrainiert wurden. Er streichelt meine Brüste mit beiden Händen, erst vorsichtig, dann fester. Er kommt lange vor mir, aber das macht nichts, weil er sofort wieder will. Beim dritten Mal schaffen wir es kurz hintereinander. Das Schöne ist, dass Stefan so wissbegierig ist. Clemens und das, was mich an ihm faszinierte, kann man in einem Satz zusammenfassen: Er kannte sich aus. Stefan ist das Gegenteil. Er will lernen. Er lässt sich genau zeigen, wie er seine Finger in mir bewegen muss. Er gibt sich die größte Mühe, es richtig zu machen, und das gelingt ihm. Es ist schon hell, als wir erschöpft und schweißgebadet voneinander ablassen. »Darf ich hier bleiben?«, fragt Stefan. Ich nicke. Er schließt die Augen, legt einen Arm um mich und schläft wenig später ein. Es wundert mich, dass er nicht nach Hause gehen will, aber er bleibt am nächsten Morgen sogar zum Frühstück. Ich setze Kaffee auf und holte Croissants vom Bäcker, bevor er überhaupt aufwacht. Auch nach dem Frühstück geht er nicht. »Hast du nichts zu tun?«, frage ich ihn. »Nein. Es sind Sommerferien.« »Ich habe noch fünf Wochen Zeit, dich jeden Tag glücklich zu machen«, sagt Stefan. »Darf ich?« Ich beschließe, dieses Wochenende ausnahmsweise einmal im Haus meines Bruders zu bleiben und nichts für die Arbeit zu tun.
Es ist höchste Zeit, andere Prioritäten zu setzen.
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