Es war Samstag Nachmittag und I. saß wie immer samstags im Café. Er genoss dieses Gefühl nach einer intensiven Arbeitswoche in einer stillen Ecke zu sitzen und die Leute zu beobachten ohne den Druck selbst der beständigen Beobachtung ausgesetzt zu sein, die ihm als öffentliche Person zuteil wurde. Die Kellnerin brachte ihm gerade seinen Tee. Irrte er sich oder beugte sie sich etwas tiefer als notwendig über den Tisch, damit er einen guten Blick in ihren Ausschnitt bekam. Während er noch mit diesem Gedanken beschäftigt nicht ganz bei der Sache die beiden Rundungen beschaute, die sich vor ihm auftaten, betrat ein neuer Gast das Café. Unwillkürlich blickte I. auf. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass er nicht der einzige war, der aufsah. Das Eintreten des neuen Gastes war umgeben von einer Aura der Selbstsicherheit, die geradezu den Zwang ausübte, dass alle Blicke sich auf sie richteten. Mit einem Schritt, der zeigte, wie gewohnt sie es war, Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein, suchte sie sich einen freien Tisch und setzte sich; die mitgebrachten Einkaufstaschen stellte sie auf den Stuhl daneben. I. hatte direkten Blick auf sie und fragte sich, ob sie wohl nur ausging, um die Bewunderung der Männer zu genießen. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass die Kellnerin wohl mit ihm gesprochen haben musste, denn sie stand wartend immer noch am Tisch. Er sah sie fragend an und verneinte als sie die Frage wiederholte, ob er vielleicht einen Kuchen zu seinem Tee wolle. Allerdings bat er sie um die Zeitung. Mit einer gewissen Erleichterung klappte er das Papierungetüm auseinander und versteckte sich dahinter um nicht länger den Neuankömmling zu beglotzen. Er hatte bereits bemerkt, wie sie ihren Hut abgenommen und in achtloser Geste auf die Tüten geworfen hatte, ebenso wie die Tatsache, dass ihre übereinandergeschlagenen Beine eine keusche Geste andeuteten und gerade dadurch die Gedanken des Beobachters in unkeusche Bahnen lenkten. Er wusste nicht weshalb, aber als sie unbewusst ihren Finger befeuchtete um die Seiten der Speisekarte besser umblättern zu können, hätte er sich beinahe vor sie hinknien wollen. Mit wachsender Spannung hatte er die befehlsgewohnte Geste beobachtet mit der sie der Kellnerin winkte endlich ihre Bestellung aufzunehmen, kaum dass sie die Karte geschlossen hatte.
I. bemerkte erst, als sein Atem sich hinter der Sicherheit der Papierwand beruhigte, dass der Anblick der Fremden seinen Puls beschleunigt hatte und war froh, sich nun ihrem Eindruck entziehen zu können, indem er sich hinter der Zeitung versteckte. Er senkte die Zeitung, um sicher zu gehen, dass er sie auch vollständig verdeckte und sah, wie sie mit spitzen Fingern Zucker in den Tee schüttete, so als ob sie sich davor ekelte solch einfache Tätigkeiten selbst verrichten zu müssen. Er vergaß seinen Sc***d wieder hochzunehmen und beobachtete sie weiter bei ihrer Teezeremonie. Er hatte schon lange keine Frau mehr getroffen, die es verstand seine Aufmerksamkeit allein durch ihre Gesten so sehr zu fesseln. Sie trank den Tee in kleinen Schlucken und hielt die Tasse in ihrer Hand während sie ihren Blick durch das Lokal schweifen ließ. Mit einem spöttischen Lächeln quittierte sie die hechelnden Blicke ihrer männlichen Umgebung und die etwas pikierten bis offen hasserfüllten Blicke der weiblichen Begleitungen. I besann sich noch gerade rechtzeitig und nahm die Zeitung wieder auf, bevor sie ihn mit ihren stechenden Augen erfassen konnte. Seine Augen wanderten über die Zeilen des Artikels, den er gerade aufgeschlagen hatte, seine Gedanken wanderten allerdings zu der Unbekannten, die ihn selbst verdeckt noch gefangengenommen hatte.
I.s Handy gab den quälenden Ton von sich, der die Ankunft einer Nachricht verkündete. Er legte die Zeitung beiseite und widmete sich seiner elektronischen Handfessel, die er allerdings wegen ihres großen Bildschirms durchaus zu schätzen wusste. Es war eine Nachricht des Pornoabos, dass er einem Anfall heftiger und einsamer Betrunkenheit und nächtlicher Fernsehwerbung verdankte. Er hatte sich allerdings nie dazu überwinden können es wieder abzubestellen. Einerseits waren manchmal doch ganz nette Ansichten dabei zu finden, andererseits gefiel ihm der Gedanke, dass diese Bilder sich zwischen den Interviewanfragen und Bitten um Stellungnahmen in seinem Nachrichtenverzeichnis befanden. Er hielt es für eine durchaus passende Nachbarschaft, auch wenn er sich manchmal fragte, ob die Mädchen nicht eine bessere, als solche eine schmuddelige Umgebung verdient hatten. Er öffnete den Anhang der Nachricht und beobachtete eine recht adrette junge Frau im engen Latexkleid dabei, wie sie ihre angebliche Nachbarin an ein Andreaskreuz band und begann auszupeitschen. Mit höflichem Interesse verfolgte I. die Szene und fragte sich, ob die ewig gleichen Plots nicht irgendwann den Pornoproduzenten selbst langweilig würden. Er bemerkte einen Schatten und sah auf, um herauszufinden, ob sich der Himmel etwa bewölkt hätte. Zu seinem großen Erstaunen sah er die beeindruckende Erscheinung der Fremden vor sich, die mit einem gefährlichen Lächeln auf ihn herabblickte. I. brauchte einige Momente, um sich zu fassen, bis er die Dame nach ihrem Begehr fragen konnte. „Ach, ich dachte mir, ich könnte für meine Sammlung noch einen kleinen verklemmten Wichser benötigen.“ Er sah sie vollkommen entgeistert an. So hatte noch nie eine fremde mit ihm gesprochen. Er spürte, wie die erwartete Empörung zu wirken begann, die ihm einflüsterte, dass das Weibsbild sich gerade eine enorme Frechheit erlaubt hatte. Ohne auf seinen sich rötenden Kopf weiter achtzugeben deutete sie nur hinter I. Er drehte sich um und sah sich selbst in einem Wandspiegel mit dem Handy in der Hand, auf dessen Bildschirm noch immer das Video zu sehen war. Nun war sein Kopf tatsächlich rot wie ein Krebs und er blickte beschämt auf die Tischplatte vor ihm, als er sich zurückdrehte. Er hörte das klare Lachen seiner Demütigerin, die sich anscheinend prächtig zu amüsieren schien. Er fühlte sich hilflos und wie ein bei einem dummen Streich ertappter Schuljunge. In die unangenehme Stille, die ihn umgab hinein erklang der Befehl: „Steh auf, … Herr Direktor!“ Während er den Beginn des Befehles noch gern als weitere Unverschämtheit ignoriert hätte, vernichtete der Nachsatz den Rest seines Trotzes. Sie kannte ihn. Das könnte unangenehm werden. Er malte sich die hämischen Schlagzeilen aus, die zu erwarten waren. Die Fremde hatte ihn in der Hand. Zögernd erhob er sich. „Ganz wie ich es mir gedacht habe, ein verklemmter Wichser!“ Lachend zeigte sie auf seine Hose. I. schaute an sich herab und hasste sich dafür, dass ihm die Erregung durch seine Beschämung so klar anzusehen war. Dies war natürlich bloß eine weitere Beschämung.
Sie warf ihm ihre Visitenkarte hin. „Ich habe noch einen Termin, du darfst in der Zwischenzeit meine Einkaufstaschen nach Hause tragen.“ Grußlos verließ sie das Café und ließ I. als gebrochen und ihr verfallen zurück.
Einen Kommentar hinzufügen