Der erste Tag nach den Weihnachtsferien brachte keine guten Neuigkeiten für die Schülerinnen und Schüler der Salem-Jones-Realschule, und besonders nicht für diejenigen unter ihnen, die im Herbst die damals eingeführten, inzwischen aber auf Eis gelegten „Neuen Regeln“ buchstäblich am eigenen Leib erfahren hatten.
In der ersten großen Pause gab es eine „Assembly“. Sara fand es immer ein bisschen merkwürdig, wenn Erwachsene englische Begriffe verwendeten. Wahrscheinlich sollte das cool wirken. Letztlich war es eine Versammlung aller Schüler in der Pausenhalle, bei der irgendwas mitgeteilt wurde, das nicht jede Klasse einzeln vom jeweiligen Klassenlehrer erfahren sollte. Normalerweise gab es Assemblys am ersten Tag des Schuljahres als eine Art Begrüßung und manchmal am letzten Tag vor Weihnachten, wenn um Spenden für irgendwas gebeten wurde. Meistens waren diese Veranstaltungen wenig glücklich, da die jüngeren Schüler nach kurzer Zeit unruhig wurden und das Gemurmel ein Zuhören für die, die das versuchten, fast unmöglich machte. Und die älteren Schüler zeigten oft von vornherein wenig Interesse und stritten sich stattdessen mit den Aufsicht führenden Lehrern, die sich verzweifelt bemühten, den allgemeinen Geräuschpegel zu reduzieren.
Dieses Mal jedoch konnte man eine Stecknadel fallen hören. Nicht etwa Herr Dressler hielt die Ansprache, stattdessen trat Frau Rottmann an das Mikrofon, das auf einem leicht erhöhten Podium stand und damit allen einen halbwegs passablen Blick ermöglichte.
„Liebe Schülerinnen und Schüler,“ fing die unsympathisch wirkende Mittelstufenkoordinatorin an, „Leider ist unser allseits beliebter Rektor Herr Dressler schwer erkrankt. Wir möchten ihm an dieser Stelle alles Gute wünschen. Ob, und wenn ja, wann er zurückkommt, ist ihm Moment nicht abzusehen. Da die stellvertretende Schulleiterin, Frau Blömker, zum Ende des Halbjahres in den Ruhestand versetzt wird, hat die Bezirksregierung entschieden, dass ab sofort und bis auf weiteres Herr Voss, der Unterstufenkoordinator, und ich die Schule kommissarisch leiten werden.“
Obwohl Sara bisher mit Frau Rottmann wenig zu tun hatte, ahnte sie, dass das keine gute Nachricht war. Frau Lehmann hatte ja anfangs des Schuljahres Einzelheiten aus Sitzungen ausgeplaudert, in denen die Mittelstufenkoordinatorin sich vehement für eine strenge Auslegung bzw. Anwendung der „Neuen Regeln“ eingesetzt hatte.
Noch bevor Sara ihren Gedanken weiter nachgehen konnte, bestätigte Frau Rottmann ihre Befürchtungen.
„Ich bin fest entschlossen, dieses Amt mit vollem Einsatz zu bekleiden. Und diesen vollen Einsatz erwarte ich auch von meinen Kolleginnen und Kollegen, und natürlich auch von Euch Schülern. So sehr ich Herrn Dressler auch geschätzt habe…, Entschuldigung: „schätze“ wollte ich sagen, so ist es doch auch kein Geheimnis, dass ich seine Entscheidung, die körperlichen Bestrafungen wieder auszusetzen, für falsch hielt und halte. Mal davon abgesehen, dass er sich damit auch im Alleingang über eine Entscheidung der Schulkonferenz hinweggesetzt hat.“
„Jetzt kommt’s gleich“, dachte Sara, die ja eine der wenigen war, die bereits schmerzhaft mit den „Neuen Regeln“ Bekanntschaft gemacht hatte. „Komm, sprich’s schon aus.“
Sie wurde nicht enttäuscht. Oder besser: sie wurde nicht überrascht.
Ende Teil 25
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